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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Schulterverband. Die vernähte Wunde sah schrecklich aus, das
schwachgelbe Dielenlicht machte daraus einen schwarzen,
verschorften Graben.
    »Meine Tochter wurde ebenfalls verletzt. Sie hätte ihre linke
Lunge verlieren können. Oder verbluten, die Halsschlagader,
verstehen Sie?«
    Vorsichtig machte Glass den Verband wieder fest und schob
Dianne zur Seite. Sie sprach jetzt nicht mehr, sondern sie sang,
ihre Worte tanzten wie kleine Schiffe auf unruhigen Wellen und
zogen dabei uns alle in ihren Bann.
    »Wissen Sie was ich glaube? Ich glaube, das Problem ist
weder Ihr Sohn noch meine Tochter oder irgendein hässliches
Schimpfwort. Das Problem ist auch nicht, dass Sie und andere
Ihre eigenen Kinder für besser halten als meine. Nein, ich
glaube, das eigentliche Problem ist, dass Sie sehr unglücklich
sind. So unglücklich, dass Sie meinen, andere Menschen
schlecht machen und beschimpfen zu müssen, und dabei
benutzen Sie widerliche Worte, die hört dann Ihr kleiner,
ebenfalls unglücklicher Sohn, und darunter müssen meine
Kinder leiden, und das werde ich auf gar keinen Fall dulden!«
    Die Mutter des Brockens sah schweigend zu Boden. Ich
wusste nicht, warum sie erst jetzt gekommen war, Stunden nach
dem Vorfall am Großen Auge. Vielleicht war sie eine schwache
Frau. Vielleicht hatte sie sich lange Mut zusprechen müssen,
bevor sie sich dazu entschloss, Glass entgegenzutreten. Und
jetzt war ihr der Wind aus den Segeln genommen worden.
    »Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Vom einen auf den
anderen Moment war Glass wieder die Ruhe selbst. Nie zuvor
hatte ich sie so erlebt, es war unheimlich. Ich tastete hinter
ihrem Rücken nach Diannes Hand. »Ich koche uns ein Kanne
Tee, wir setzen uns in die Küche und reden.«
    »Ich will das nicht«, sagte die Frau, dabei hatte sie, angezogen
von dem Sirenengesang, die Eingangshalle bereits betreten.
»Und ihr«, wandte Glass sich an Dianne und mich, »putzt
euch die Zähne und verschwindet in die Betten. Und Licht aus!
Ich sehe später noch mal rein.«
Das Letzte, was ich von der Mutter des Brockens sah, war ihr
schmaler Rücken. Nur zwei Monate später kam der Brocken
nicht mehr zur Schule; seine Mutter hatte mit Kind und Kegel
sowohl ihren Mann als auch die Stadt verlassen. Dass kurz
darauf auch der kleine, wimpernlose Messerstecher verschwand,
erschien mir wie Zauberei; lange glaubte ich, Glass müsse nur
ihren betörenden Singsang anstimmen, um so die Welt, wie ich
sie kannte, aus den Angeln zu heben oder sie dazu zu bewegen,
ihre Umlaufbahn um die Sonne zu ändern.
»Worüber reden die jetzt?«, fragte Dianne, als sie die Tür zu
unserem Zimmer hinter sich schloss. »Über uns?«
»Ich weiß nicht.«
Sie legte eine Hand auf den Lichtschalter, mit der anderen
zeigte sie auf ihr Bett, wo ihr zerknüllter Pyjama lag. »Willst du
meinen Schlafanzug anziehen?«
»Nein.«
»Möchtest du in meinem Bett schlafen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
Ich zuckte die Achseln. Ich wusste es nicht.
»Na gut. Dann mach ich jetzt das Licht aus.«
Ich lief im Dunkeln zu meinem Bett und krabbelte unter die
Decke. Trotz der bis in die Spitzen meiner Finger und Zehen
reichenden Müdigkeit konnte ich nicht einschlafen, ich war zu
aufgeregt. Hinter Dianne und mir lag ein glorreicher Tag. Wir
hatten gekämpft und wir hatten in Blut gebadet. Wie Helden
hatten wir uns geschlagen und den Sieg über eine Übermacht
von Feinden davongetragen. Auf der anderen Seite des Flusses,
das wusste ich, fielen auf die schlafenden Dächer der Stadt
bereits die ersten Silberfäden, die sich in Kinderträumen zur
Legende von der Schlacht am Großen Auge verweben würden.
In Zukunft würden wir in Ruhe gelassen werden. Wir waren
unangreifbar. Ein riesiges Gewicht wurde von meiner Brust
genommen, als sich die Erkenntnis in mir breit machte, dass ich
nie wieder Angst haben musste.
»Du warst toll«, flüsterte ich Dianne durch das Zimmer zu.
»Du hast den Brocken genau getroffen. Das war toll!«
»Ich hab danebengeschossen, genau wie bei der blöden
Forelle.«
Etwas in ihrer Stimme brachte die Dunkelheit zum Brodeln.
Plötzlich wünschte ich mir, Dianne würde nicht weitersprechen,
doch da warf die Luft bereits schwarze Blasen, die zischend
zerplatzten.
»Weißt du, Phil, ich hatte auf sein Herz gezielt.«
    ICH PACKE MEINE TASCHE, als ich das Zuschlagen der
Haustür höre. Dianne geht ohne mich zur Schule. In der Regel
geht sie immer zu Fuß, während ich

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