Andreas Steinhofel
mit dem Fahrrad fahre.
Doch heute bilde ich mir ein, dass sie sich ganz bewusst von
mir absetzen will – dass die Tür besonders heftig ins Schloss
fällt, dass selbst ihre Schritte, die sich über den Kies der
Auffahrt entfernen, aufdringlich laut sind. Normalerweise
bewegt Dianne sich durch die Welt wie ein Nebelstreif,
unsichtbar und so gut wie gewichtslos, als wolle sie dort, wo sie
auftritt, keine Abdrücke hinterlassen. Vielleicht ist sie noch
immer aufgebracht, weil ich sie unter der Dusche beobachtet
habe.
In der Schule sehen wir einander bestenfalls während der
Pausen. Es gibt keinen einzigen Kurs, den wir gemeinsam
belegen. Früher, in der Grundschule, hatten wir anfangs
dieselbe Klasse besucht, aber die Hexenkinder in doppelter
Ausführung war zu viel für die Nerven unserer kleinen
Mitschüler. Unaufmerksamkeit und panische Aussetzer waren
die Folge gewesen; schließlich hatten einige Lehrer Glass
höflich, aber mit dem nicht schwer zu interpretierenden
Hinweis, dass dies auch für ihre Kinder das Beste sei, darum
gebeten, Dianne und mich in verschiedene Klassen zu geben.
Bei diesem Arrangement ist es bis heute geblieben, und
inzwischen kommt es uns beiden entgegen.
Ich trete ans Fenster, gerade noch rechtzeitig, um Diannes in
graubraunen Stoff gekleidete Gestalt zwischen ein paar Bäumen
verschwinden zu sehen. Es sind dieselben Bäume, in deren
Stämmen ich vor Jahren, nachdem Kyle uns verlassen hatte und
Dianne von ihrer Suche nach einem Pfeil zurückgekehrt war,
tiefe, zornige Einschnitte entdeckt hatte, wo die Rinde aus ihnen
herausgehackt worden war. Damals sammelte ich im Garten
weiches Moos und stopfte die größten Löcher notdürftig damit
aus, wie Wunden, die es zu verbinden galt.
ROTER SCHUH IN TIEFER GRUBE
DIE DÜNNEN, STRICHFÖRMIGEN NARBEN hinter
meinen Ohren funktionieren wie meteorologische
Messinstrumente. Mit einem feinen Jucken kündigen sie
zuverlässig jeden bevorstehenden Wetterwechsel an. Während
ich mein Fahrrad im Unterstand neben dem Hauptgebäude der
Schule ankette, werfe ich einen Blick in den Himmel. Er ist von
trügerischem Blau, wolkenlos. Nur eine Ahnung von Schwüle
versichert mir, dass meine Narben Recht behalten werden und
dass nachmittags, vielleicht auch erst abends, Regen oder ein
heftiges Gewitter bevorsteht.
Das Gymnasium ist ein architektonisches Überbleibsel der
Jahrhundertwende, ein klotziger, vierstöckiger Bau von ebenso
unerschütterlicher wie beruhigender Standfestigkeit. Als Kind
bildete ich mir ein, seine graubraunen Mauern würden Hunderte
von Metern tief in der Erde wurzeln. Vor etlichen Jahren ist
lieblos ein moderner Anbau an den rückwärtigen Teil des
Gebäudes geklatscht worden, ein flaches, lang gestrecktes
Konstrukt aus viel Beton und Stahl und noch mehr Glas. Dank
dieses schmucklosen, unter der Regie von Kats Vater
entstandenen Anhängsels gibt es praktisch drei Schulhöfe: einen
vor dem alten Hauptgebäude, beliebt wegen der zahlreichen
Schatten spendenden Kastanienbäume, der sich fest in der Hand
der älteren Schüler befindet, sowie zwei weitere Höfe links und
rechts des Anbaus, die sich die unteren Jahrgänge teilen.
Kat erwartet mich vor dem Haupteingang. Sie ist unschwer
auszumachen zwischen all den anderen Schülern, die über den
Hof schwärmen und in das Gebäude drängen – nicht etwa, weil
sie besonders groß ist oder weil sie die blonden Haare auf eine
Art hochgesteckt hat, die ich von Glass kenne, denn Kat
vergöttert Glass und ahmt sie nach, wann immer sie kann -,
sondern weil der Hauptstrom der Schüler sich vor ihr teilt, wie
das Rote Meer sich vor Moses geteilt haben muss. Was
wiederum nichts mit Rücksichtnahme zu tun hat, sondern mit
Kats Status. Sie ist, genau wie ich, weder besonders beliebt
noch besonders unbeliebt. Sie wäre vielleicht beliebter, wenn
sie nicht den Direktor der Schule zum Vater hätte. Das hält die
meisten Leute auf vorsichtigen Abstand, auch wenn mir nie
ganz klar geworden ist, warum. Vielleicht vermuten sie, Kat
habe eine Art heißen Draht zu Gott. Weniger wundert mich,
dass Kats Distanzlosigkeit und die Angewohnheit, jedem auf
den Kopf zuzusagen, was sie von ihm hält, ihr nicht gerade
Sympathiepunkte einbringen.
»Wartest du auf mich?«, begrüße ich sie. »Oder stehst du für
Thomas auf dem Präsentierteller?«
Sie verzieht das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
»Der ist schon drin. Mit weidwundem Blick an
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