Andreas Steinhofel
mir
vorbeigezogen. Dianne hab ich übrigens auch schon gesehen.«
»Sie ist vor mir gegangen.«
»Sie hatte irgendeine Freundin im Schlepptau.«
»Dianne?« Ich stelle meine Tasche ab. »Die hat keine
Freundinnen.«
»Bist du sicher?«
»Nein.«
Kat grinst. »Vielleicht gründet sie einen Club für
Magersüchtige. Die Frau läuft in den gleichen abgeschmackten
Klamotten rum wie deine Schwester, und sie ist genauso dürr.«
»Wie heißt sie?«
»Keine Ahnung. Ist nicht aus unserem Jahrgang.« Sie tritt von
einem Fuß auf den anderen und wirft einen Blick über meine
Schulter, als befürchte sie, jemanden zu verpassen.
Ich wende mich um, kann aber niemanden entdecken, »Sagst
du mir jetzt, auf wen du wartest?«
»Mann, schon vergessen? Heute kommt der Neue, der Typ
aus dem Internat.«
»Bist du deswegen so zappelig?«
»Ich fühle es, Phil.« Sie nimmt meine Hand, legt sie auf ihre
linke Brust und hält sie dort fest. »Genau hier! Der Typ wird
meinem Leben eine neue Richtung geben!«
»Was hast du da drin? Einen Kompass?«
»Mein Herz ist da drin, du Idiot! Mein kleines Herz, das sich
nach Liebe sehnt.«
»Ach ja?« Zwei Mädchen gehen an uns vorbei und kichern
albern. Ich ziehe meine Hand zurück. »Neulich klang das noch
ganz anders. Da wolltest du bestenfalls einen Typen, der – «
»Neulich, neulich… Das ist eine Million Jahre her, Phil! Der
denkende Mensch ändert seine Meinung.«
»Sagt wer?«
»Sagt Nietzsche.«
»Wer ist Nietzsche? Sieht er gut aus?«
Ein flachsblonder Haarschopf taucht neben uns auf, drängt
sich an mir vorbei und geht im nächsten Moment schon wieder
in der Menge unter.
Kat reckt den Kopf und sieht ihm nach. »Hey, war das nicht
Wolf?«
»Ja, das war Wolf. Was ist, können wir jetzt reingehen?« Ich
bücke mich nach meiner Tasche.
»Der Typ ist unheimlich! Der hat den Serienmörderblick.«
»Lass ihn zufrieden, Kat, okay?«
»Oh, Entschuldigung!« Sie fixiert mich mit einem spöttischen
Lächeln. »Ich hatte vergessen, dass ihr mal was miteinander
hattet.«
»Wir hatten nichts miteinander! Wir waren nur befreundet,
und das ist lange her. Wahrscheinlich kann er sich gar nicht
mehr an mich erinnern.«
»Du hast selber gesagt, er wäre ein Psycho.«
»Ja, er ist ein armes Schwein, und jetzt konzentrier dich in
Gottes Namen auf dein kleines Herz und nerv mich nicht!«
»Meine Güte, sind wir empfindlich heute.« Sie rempelt einen
kleinen Jungen aus der Unterstufe an, der neben ihr herläuft.
»Er ist empfindlich heute, findest du nicht?«
Der Junge zieht verschreckt den Kopf ein, wie eine Schnecke
ihre empfindlichen Fühler, und hastet davon.
»Nun komm schon.« Ich habe genug von Kats Plänkeleien.
»Den Neuen kannst du auch in der Pause suchen.«
»Muss ich gar nicht.« Sie geht im Schlendertempo neben mir
her und lässt sich auch vom Klingeln der Schulglocke nicht aus
der Ruhe bringen. »Wir sind im selben Kurs. Ich hab ein
bisschen in Daddys Unterlagen gekramt.«
»Was steht auf dem Programm?«
»Händel. Hast du keinen Stundenplan?«
»Hab nicht drauf geschaut.«
Händel ist Mathematiklehrer. Dass er denselben Namen trägt
wie einer der größten Barockmusiker gibt ihm dann und wann
Anlass, sich über die enge wissenschaftliche Verwandtschaft
von Musik und Mathematik auszulassen und darüber, dass ein
tieferes Verständnis dieser beiden abstrakten Disziplinen eng an
deren Verarbeitung im linken Teil des menschlichen Gehirns
gekoppelt ist.
»Die Fähigkeit zur Abstraktion, meine Herrschaften, ist die
Grundlage jeglicher Vernunft, folglich der Aufklärung. Ratio,
Logik – wer diese Eigenschaft nicht kultiviert, der ist seinen
Emotionen so hilflos ausgeliefert wie ein Steinzeitmensch den
Naturgewalten. Der wird, tief in seinem Inneren, den
Aberglauben nicht ablegen, Blitz und Donner seien ein Zeichen
göttlichen Zorns. Der wird sich, meine Damen und Herren,
immer nur ducken!«
Ich bin miserabel in Mathematik, im Gegensatz zu Kat nicht
besonders musikalisch, und die Ausführungen, in denen Händel
sich so gern verliert, sind oft derart abstrakt, dass ich ihnen nach
dem vierten oder fünften Satz kaum noch folgen kann, wodurch
sich der Schluss förmlich aufdrängt, meine linke Hirnhälfte sei
verkümmert – auch wenn ich Händel innerlich entschieden
widerspreche, was das Ducken angeht. Vielleicht könnte Glass
ihm Nachhilfeunterricht erteilen und beibringen, dass
amerikanische linke Gehirnhälften anders funktionieren.
»Ich hab
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