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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Geschrei
festmachen kann, das bei seinem Eintreten aufgebraust ist, dann
ist er grenzenlos populär. Nachdem der Begrüßungslärm
abgeebbt ist, nickt er dem Neuen zu, der sich jetzt der Klasse
zuwendet.
»Nicholas«, stellt er sich vor, knapp und ohne seinen
Nachnamen zu nennen. Höchstens die Hälfte der anwesenden
Schüler nimmt davon Notiz. Ich mustere sein Gesicht und
denke, während mein Magen mit der Geschwindigkeit eines
abstürzenden Fahrstuhls in Richtung Kniekehlen schießt: Nun
weiß ich endlich, wie du heißt.

ALS WIR ZWÖLF JAHRE ALT waren, schenkte ich Dianne
zu Weihnachten einen silbernen Anhänger, der mir beim
Herumstöbern zwischen morschen Holzkisten und
vermodernden Pappkartons im Keller von Visible in die Hände
gefallen war. Im Gegenzug erhielt ich eine gläserne
Schneekugel, von der Dianne behauptete, sie ebenfalls gefunden
zu haben, ohne sich weiter über den Fundort auszulassen.
Vielleicht landeten wir mit unseren Geschenken gerade deshalb
Volltreffer, weil wir uns beide keine ernsthaften Gedanken
darum gemacht hatten, ob sie dem anderen gefallen würden
oder nicht.
    Was den Anhänger, einen sichelförmigen Halbmond, betraf,
so benahm sich Dianne, als hätte er ihr schon immer gehört und
wäre nur kurzzeitig verloren gegangen. Da das Silber
angelaufen war, trug sie den Anhänger zu einem Juwelier, der
ihn reinigte, zum Glänzen brachte und meine Schwester
überredete, sich eine dazu passende Halskette zu kaufen. Ein
paar kleine, dunkle Flecken, die der Juwelier nicht zu entfernen
vermocht hatte, blieben auf dem Mond zurück, doch das tat
Diannes überraschend offener Freude über das Geschenk keinen
Abbruch.
    Ich hatte meinerseits kaum die Schneekugel ausgepackt, als
diese auch schon einen merkwürdigen Zauber entfaltete, der
mich für Tage in seinen Bann schlug. Wo immer ich saß oder
stand, wurde ich nicht müde, die silbrig weiße Wolke zu
betrachten, die aufstieg, wenn ich die Kugel schüttelte. Sobald
das schimmernde Gestöber sich lichtete, wurde dahinter ein
kleines dunkles Haus sichtbar, aus dessen winzigen Fenstern
und Türen orangerote Flammen schlugen. Und wie ich es auch
anstellte: immer blieben einige der Flocken beim Herabsinken
auf den leckenden Feuerzungen liegen. Es war dieser
Widerspruch, der mich faszinierte. Wie sollte etwas brennen,
obwohl Schnee darauf fiel? Was waren das für Flammen, die
weder durch Kälte noch durch Eis gelöscht wurden? Als ich
Paleiko danach fragte, war seine Antwort darauf ein so leises
Flüstern, dass ich ihn nicht verstand.
    Wenige Tage nach dem Weihnachtsfest ging Glass mit mir in
die Stadt. Mit jedem Atemzug kleine Wolken vor uns
hertreibend, stapften wir über frisch gefallenen Schnee durch
den schweigenden Wald. Es dämmerte bereits, als wir die Mitte
der Brücke erreicht hatten, die über den Fluss führte.
    »Zugefroren«, sagte Glass. Sie legte die Hände auf das
Geländer. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass sie mich
musterte.
    Ich sah nach unten, wo geriffeltes, blaugraues Eis das Licht
der Straßenlaternen reflektierte. Abgeknicktes Schilf und mit
Raureif bedeckte Grasbüschel, zu Leblosigkeit erstarrt, säumten
die Uferseiten.
    »Was geht dir durch den Kopf?«, fragte Glass.
»Gar nichts.«
»Man kann nicht an gar nichts denken.«
»Doch, kann man.«
Ich dachte daran, dass der vereiste Fluss einer Landebahn
    glich. Vor zwei oder drei Jahren hätte ich vermutlich noch
darauf gewartet, dass ein Flugzeug die düsteren Wolken des
Winterhimmels durchschneiden und mit wirbelnden Propellern
zur Landung ansetzen würde. Mein Vater wäre ihm entstiegen
und hätte mich mit nach Amerika genommen. Andere Kinder
hatten Weihnachten mit ihren Vätern verbracht.
    Glass zog geräuschvoll die Nase hoch. Ihre Hände schlossen
sich fester um das Geländer. »Ich bin schwanger, Phil, im
dritten Monat«, sagte sie. »Ich will das Kind haben. Deiner
Schwester wird das nicht gefallen.«
    Die Luft prickelte kalt auf meiner Haut. Ich wusste, dass ich
mich freuen sollte. Was ich stattdessen empfand, war Mitgefühl,
wie man es einem kleinen Vogel gegenüber hat, der aus dem
Nest gefallen ist. Ich konnte nur daran denken, dass das Baby,
genau wie Dianne und ich, keinen Vater haben würde. Martins
grüne Augen fielen mir ein, der Geruch dunkler Gartenerde, der
ihn umgeben hatte. Ich wünschte mir, dass er der Vater war, er
oder Kyle, dessen schöne Hände Diannes Bogen geschnitzt
hatten. Aber

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