Andreas Steinhofel
beide Männer waren schon vor Jahren
verschwunden.
»Dianne merkt es bestimmt«, sagte ich zu Glass. »Spätestens
wenn du einen dicken Bauch kriegst.«
»Ich habe auch nicht vor, es ihr zu verheimlichen.« Sie klang
beinahe wütend. »Aber es reicht, wenn sie es später erfährt,
okay?«
Ich nickte, wohl wissend, dass ich mich so zu ihrem
Komplizen machte, und starrte weiter hinab auf das Eis. Wenn
man genauer hinsah, konnte man flach gewalzte Luftblasen
erkennen, die sich langsam darunter verschoben. Dann blickte
ich erwartungsvoll hinauf in den Himmel, doch die
Wolkendecke blieb geschlossen.
Als wir am Marktplatz angekommen waren, hatte es wieder zu
schneien begonnen. Der Schnee fiel so dicht, dass er jedes
Geräusch verschluckte, selbst der Motorenlärm der Autos, die
wie in Zeitlupe durch die Straßen glitten, wurde gedämpft.
Gelbe Scheinwerferkegel schufen geisterhaftes Licht. Von
ihrem Platz auf dem hohen Podest des Kriegerdenkmals
schauten zwei Soldaten aus kalten, leblosen Augen auf Glass
und mich herab. Die Weihnachtsauslagen, die in den meisten
Schaufenstern noch zu sehen waren, wirkten fehl am Platz. Der
Festtagstrubel war vorbei, die Menschen waren in Gedanken
schon längst beim Jahreswechsel.
Ich hielt mich dicht an Glass. Sie spazierte ziellos von einem
Geschäft zum nächsten, die Wangen hochrot, die Augen
glänzend, und schien die abfälligen Seitenblicke nicht
wahrzunehmen, mit denen einige Passanten sie musterten. Es
machte mich verlegen, dass sie bekannt war wie ein bunter
Hund und von den Kleinen Leuten nicht gemocht wurde, und es
irritierte mich, dass sie sich offensichtlich einen Teufel darum
scherte. Wir näherten uns der Kirche, die den zum Schlossberg
hin ansteigenden Marktplatz nach Norden abschloss, als uns
zufällig eine von Glass’ Kundinnen über den Weg lief und
meine Mutter erkannte. Die Frau zog schnell den Kopf ein, der
in ihrem hohen Mantelkragen wie in einem Schildkrötenpanzer
verschwand. Wahrscheinlich wäre sie in diesem Moment
ebenso gerne im Boden versunken wie ich. Ich ließ nervös die
linke Hand in die Manteltasche gleiten, tastete nach dem
glatten, kühlen Glas der Schneekugel, die ich seit Tagen mit mir
herumschleppte, und blickte in eine andere Richtung.
Deshalb sah ich den Jungen.
Nur wenige Meter von Glass und mir entfernt, stand er auf
dem obersten Absatz der dreistufigen Treppe vor dem
Kirchenportal. Als er bemerkte, dass ich ihn musterte, huschte
der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. Er war größer als
ich, vermutlich auch etwas älter. Schwarzes Haar fiel in eine
weiße Stirn. Augen, so dunkel wie die Diannes, und unwirklich
rote Lippen.
Glass war meinem Blick gefolgt. Plötzlich hob sie einen Arm,
und zu meiner großen Bestürzung winkte sie dem Jungen zu. Er
konnte gar nicht an Glass vorbeisehen, schließlich stand sie
direkt neben mir. Doch er reagierte nicht auf ihr Winken. Er
blieb vor dem Kirchenportal stehen, still und regungslos wie
eine Wachsfigur. Er lächelte nicht mehr, aber seine Augen
leuchteten lebendig und sengten Löcher in meinen Mantel.
»Glass, hör auf damit!«
Meine eigene Stimme kam mir fremd vor. Glass lachte und
winkte noch einmal. Ich schlug nach ihrem ausgestreckten Arm,
verfehlte ihn, rutschte auf dem eisglatten Pflaster des Gehsteigs
aus und landete der Länge nach auf der Straße. Ich schmeckte
Blut – ich hatte mir auf die Unterlippe gebissen – und fluchend
wünschte ich Glass zur Hölle, laut genug, dass sie es hören
konnte. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, das Gesicht
hochrot vor Scham, war der Junge verschwunden.
»Was soll das?«, herrschte ich Glass an. Ich war so wütend
und verwirrt, der Vorfall war mir so peinlich, dass ich sie am
liebsten umgebracht hätte. »Warum hast du ihm zugewinkt?«
Anstelle einer Antwort deutete Glass auf einen Mann und eine
Frau, die träge, wie vom Wind getriebene Blätter,
hintereinander durch das Schneetreiben ruderten. Der Körper
des Mannes war verwachsen, beim Gehen zog er das linke Bein
nach. Das Gesicht der Frau, zur Hälfte verdeckt von einer
verrutschten Pelzmütze, schien von einem betrunkenen
Puppenmacher aus unpassenden Bauteilen zusammengesetzt
worden zu sein. Ihr Mund war kaum zu sehen, nicht mehr als
ein pfenniggroßes Loch, ihr Atmen ein leises Fauchen.
»Sieh sie dir an, die armen Dinger«, sagte Glass leise. Und mit
fester Stimme fügte sie hinzu: »Diese Stadt ist eine verdammte
Kloake.«
Ich
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