Andreas Steinhofel
belegt der direkt an
meinen Kurs in Leichtathletik anschließt.
In den folgenden drei Wochen gehe ich nach dem Unterricht
nicht direkt vom am Stadtrand gelegenen Sportplatz nach
Hause, sondern bleibe eine Stunde länger dort. Ich dusche und
ziehe mich um, dann setze ich mich in den Schatten auf eine der
Zuschauerbänke, lege mir ein aufgeschlagenes Buch auf die
Knie und tue so, als lese ich darin.
Der Sommer hat das Land fest im Griff. Die Tage sind von so
blendender, alle Konturen verschärfender Helligkeit, dass
einzelne Grashalme wie grüne Speerspitzen wirken, und der
Himmel ist wie kristallklares Wasser, in das hineinzustürzen
man nur von der Schwerkraft gehindert wird.
Den Blick ins Leere gerichtet, mit scheinbar spielerischer
Leichtigkeit, dreht der Läufer Runde um Runde auf dem Rostrot
der Aschenbahn. Es macht Spaß, ihm dabei zuzusehen.
Normalerweise sind seine Schultern unmerklich nach vorn
gezogen, als ob er in ständiger Abwehrbereitschaft lebt. Doch
während des Laufens fällt alle Anspannung von ihm ab. Er
scheint zu schweben, nicht das kleinste Sandkörnchen wirbelt
unter seinen Schritten auf, so dass man den Eindruck gewinnt,
seine Füße hätten nie wirklich Kontakt mit dem Boden.
Sowenig der Läufer meine Anwesenheit auf dem Sportplatz
wahrzunehmen scheint, sowenig bemerkt er die Seitenblicke,
mit denen ich ihn in der Schule mustere. Mathematik ist das
einzige Fach, in dem wir denselben Kurs belegt haben.
Um Nicholas auf mich aufmerksam zu machen, beschließe
ich, Händel zuzuhören, wenn dieser vom Mathematischen ins
Philosophische und zur Gedankenakrobatik abdriftet. Ich
aktiviere meine linke Gehirnhälfte und gebe mein Bestes, um
bei den gelegentlich aufbrandenden Diskussionen mitzuhalten,
was von Händel mit einer anerkennend hochgezogenen
Augenbraue registriert wird, der Aufmerksamkeit des Läufers
aber schlichtweg entgeht.
Es dauert nicht lange, und ich komme mir vor wie ein Idiot.
Bevor Kat mein plötzlich erwachtes Interesse an Diskursen über
Gefühl und Verstand kritisch hinterfragen kann, ist es auch
schon wieder erloschen. Nach vier Wochen stelle ich auch
meine Beobachtungen auf dem Sportplatz ein. Ich habe das
Gefühl, inzwischen jeden Beinmuskel des Läufers mit
Vornamen zu kennen. Er erweist sich als zurückhaltend, wenn
auch als längst nicht so schweigsam, wie ich ihn am Anfang
eingeschätzt habe. Entgegen meinen Erwartungen stellt er sich
auch nicht als Einzelgänger heraus. Nicholas muss niemanden
ansprechen, die anderen gehen von selbst auf ihn zu. Auf
Fragen gibt er kurze, aber interessierte und von einem
unverbindlichen Lächeln unterstützte Antworten, die das
unangenehme Gefühl, ihn möglicherweise zu stören, gar nicht
erst aufkommen lassen. Nur vor dem Laufen sondert er sich ab.
Dann vermeidet er jedes Gespräch, hält sich allein am Rand der
Aschenbahn auf, wo er unruhig hin und her tänzelt, bis er das
Signal erhält, sich zum Start fertig zu machen. Von diesem
Moment an ist jede seiner Bewegungen so vorhersehbar wie die
einer mechanischen Aufziehpuppe. Das Laufen nimmt ihn
völlig gefangen. Erst wenn er die Ziellinie passiert und mit
aufeinander gepressten Lippen einen knappen, immer
unzufriedenen Blick auf die Stoppuhr geworfen hat, verwandelt
er sich zurück. Dann gesellt er sich zu den anderen Schülern,
mit denen er kurz darauf, lachend und im Schulterschluss, den
Sportplatz verlässt.
Gute Sportler sind immer beliebt. Seine Anbeter umschwirren
Nicholas wie Bienen einen Topf voller Honig.
»Solche Typen wecken uralte Instinkte«, kommentiert Kat
meine Beobachtung. »Das Rudel, weißt du.«
»Was ist mit dem Rudel?«
»Es ist auf den Schnellsten und Stärksten angewiesen, um zu
überleben. Deshalb fliegen auch die Frauen auf solche Kerle.«
Sie grinst. »Sie wittern gutes genetisches Material.«
»Wenn es nur darum geht, warum bist du dann nicht bei
Thomas geblieben?«
»Tu nicht so blöd!«, schnaubt sie. »Was ich gesagt habe, galt
für die Steinzeit. Inzwischen geht es um viel mehr als das. Oder
siehst du vielleicht die Menschheit noch in Rudeln
herumrennen?«
»Ehrlich gesagt…«
»Eine Kultur kann sich erst entwickeln, sobald der Verstand
ins Spiel gekommen ist. Köpfchen statt Muskeln, Diplomatie
statt roher Gewalt.« Sie nickt, mit sich selbst einverstanden.
»Du klingst wie Händel.«
Kat schüttelt den Kopf. »Nein, in diesem Fall wie mein Vater,
wenn er einen seiner liberalen Anfälle
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