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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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hat. Und er hat Recht.«
Es ist mir relativ gleich, aus welchen Quellen sich die
Popularität des Läufers speist. Tatsache ist, dass er Freunde hat.
Der Neid auf die federnde Leichtigkeit, mit der Nicholas auf
andere Menschen zugeht, sie um sich schart und an sich zu
binden weiß, befällt mich innerhalb kürzester Zeit wie Rostfraß.
Die Liebe braucht länger. Sie kommt langsam, wie eine
schleichende Krankheit, und sie krallt sich um mein Herz wie
der Efeu, unter dem Visible im Sommer beinahe erstickt.
VOR JAHREN WAR WOLF der einzige Junge, mit dem
mich, wenn auch nur für kurze Zeit, so etwas wie Freundschaft
verbunden hatte. Er besaß die ausdrucklosesten Augen, die ich
je gesehen hatte, und er war wirklich und wahrhaftig verrückt.
Seine Seele war zerbrochen und kalt wie flüssiger Stickstoff.
Mit der Schlacht am Großen Auge hatten Dianne und ich uns
Respekt verschafft; danach wurden wir nie wieder behelligt.
Zugleich aber hatten wir uns gründlich den Weg verbaut, jemals
Freunde zu gewinnen – Diannes Pfeil hatte sich tief ins Fleisch
der Kleinen Leute gebohrt, es war, als würde er in regelmäßigen
Abständen ein schwarzes Gift absondern, das jeden daran
erinnerte, dass wir gefährlich waren und gemieden werden
mussten. Wenn wir – wie ich fest glaubte – nachts durch
Kinderträume geisterten, dann nicht als Helden, sondern als
Schreckgestalten. Tagsüber gingen uns die kleinen Träumer
ängstlich aus dem Weg, daran vermochte auch die Zeit nichts zu
ändern.
Ich redete mir ein, dass ich die Freundschaft anderer Kinder
weder benötigte noch vermisste. Beides war eine Lüge. Kat
begann gerade erst damit, sich gegen die Zügel zu sträuben, die
ihre Eltern ihr anzulegen versuchten; ich sollte sie erst später
richtig kennen lernen. Und Dianne war mir oft nicht genug.
Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich sie in Gedanken
gegen einen Jungen meines Alters austauschte, mit dem ich
durch die Felder streifte, den ich in meine Geheimnisse
einweihte, der sich gemeinsam mit mir die Knie aufschürfte.
Es war ein Flüstern, das mich, nach dem Eintritt in die fünfte
Klasse, auf Wolf aufmerksam machte, einen blassen, nie ganz
anwesend wirkenden Jungen, zu klein für sein Alter, der sich
von anderen Kindern fernhielt und der ein ebensolcher
Einzelgänger zu sein schien, wie ich selbst einer war. »Er lebt
allein mit seinem Vater«, huschte es in den Pausen über den
Schulhof. »Seine Mutter hat sich umgebracht.«
In der Klasse saß er allein an einem Tisch, so wie auch ich
allein an einem Tisch saß. Ich beobachtete ihn. Er wirkte
seltsam bewegungs- und kraftlos. Oft schien er durch die
anderen Schüler hindurchzublicken auf irgendeinen meilenweit
entfernten, unsichtbaren Horizont. Schließlich sprach ich ihn an,
mit klopfendem Herzen, und fragte, ob er sich neben mich
setzen wolle. Wolf musterte mich aus verhangenen Augen, den
Blick voller Misstrauen.
»Warum?«, wollte er wissen.
»Mein Vater ist tot«, sagte ich.
Wochenlang befürchtete ich, Wolf könne hinter meine Lüge
kommen und ich würde wieder so allein sein wie zuvor. Doch er
fragte mich nie nach meinem angeblich toten Vater aus, er war
zufrieden, mich zum Freund zu haben. Es lag nicht in seiner
Natur, Dinge zu hinterfragen, er sprach überhaupt kaum etwas,
was mir recht war. Gleichzeitig weigerte er sich, bestimmte
Fragen zu beantworten. Als ich von ihm wissen wollte, woher er
den Schlüssel für den alten Keller der Schule habe, den er mir
eines Tages auf seine ruhige, undramatische Art präsentierte,
schüttelte er nur wortlos den Kopf. Er hatte strohige,
flachsblonde Haare, die ich gerne berührt hätte.
Wir suchten den Keller viele Male auf, stets nachmittags,
wenn wir sicher sein konnten, dass die Schule leer und
verlassen lag. Der Eingang befand sich am rückwärtigen Teil
des Hauptgebäudes – eine niedrige Holztür mit
rostgesprenkelten Eisenbeschlägen, die, betrachtete man den
ungehindert davor wuchernden Pflanzenteppich, wohl seit
Ewigkeiten nicht geöffnet worden war. Hinter der Tür gab es
einen Lichtschalter, der jedoch nicht funktionierte. Erst
nachdem man über eine schmale, unsichere Treppe nach unten
gestiegen und fünf oder sechs Meter durch totale Finsternis und
eine erstaunliche Kälte getapst war, ließ sich an einer der
Wände ein weiterer Schalter ertasten. Knipste man ihn an, fand
man sich in einer eigenen, fremden Welt wieder.
Die einzelnen Kellerräume waren kaum

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