Andreas Steinhofel
mehr als durch
morsche Bretterwände voneinander getrennte Verschlage.
Nackte Glühbirnen warfen ihr Licht auf unzählige Stapel
ausgemusterter Bücher, auf zerschlissene Atlanten, auf völlig
verblasste, von der Geschichte längst überholte Wandkarten.
Hier unten war die Zeit rasend vorangeeilt und dann
unvermittelt stehen gebheben. Alles atmete Zerfall, selbst die
Luft schmeckte alt, staubig und grau.
»Hier gibt es nicht mal Spinnen«, stellte Wolf einmal fest.
Ich haderte lange mit mir, bevor ich zwei der alten
Wandkarten stahl. Eine davon war eine aufgeklappte,
geodätische Ansicht der Weltkugel, die andere zeigte
Nordamerika. Wolf half mir dabei, die Karten aufzurollen. Ich
fuhr mit dem Finger die Ostküste der Vereinigten Staaten
entlang, Boston war einer von vielen dicken, roten Punkten. Ich
nahm die beiden Karten mit nach Visible. Niemand würde sie
vermissen.
Erst bei unserem zweiten Besuch entdeckten Wolf und ich die
im hintersten Winkel des Kellers aufgestellten Vitrinen. Durch
das Glas der Schranktüren musterten uns ausgestopfte Tiere aus
falschen, trüben Augen, die Felle räudig und zerlöchert, die
Gefieder glanzlos. Zerbrechliche kleine Skelette fanden sich
dort, Vogeleier von den unterschiedlichsten Farben und
zerfallene Bienenwaben, dünn wie Pergament. Am meisten
jedoch faszinierte uns eine Reihe hoher, mit einer blassgelben
Flüssigkeit gefüllter Gläser und luftdicht abgeschlossener
Zylinder. Fische und Ratten steckten darin, Frösche und Vögel,
deren Leiber und Köpfe man geöffnet hatte um den Blick
freizugeben auf kastaniengroße, verknotete Gehirne, auf
fremdartige Organe und auf in sich verschlungene Innereien, die
allesamt verblasst waren zu einem einheitlichen Grau.
Nach dieser Entdeckung verlor Wolf an allen anderen im
Keller gelagerten Gegenständen das Interesse. Immer wieder
zog es ihn vor die Vitrinen, auf deren Glastüren seine
Fingerspitzen fettige Spuren hinterließen, wo sie den Verlauf
längst kollabierter Blutgefäße und die verästelten Netzwerke
millimeterfeiner Nervenbahnen nachzeichneten. Einmal lachte
ich laut auf, ich weiß nicht mehr, worüber. Wolf zuckte
zusammen, als hatte ich ihm einen Schlag versetzt. Er wedelte
mit den Armen, sein Gesicht war rot angelaufen. »Du musst
leise sein«, zischte er, »sonst weckst du sie auf. Sie schlafen.«
In der folgenden Nacht träumte ich von Tieren, die mich aus
toten, milchweißen Knopfaugen anstarrten. Sie zappelten und
verrenkten die geöffneten Leiber, während sie vergeblich nach
Luft schnappten in dieser gelben Brühe, die sie für die Ewigkeit
konservierte. Ich wachte schreiend auf und sah in das über mich
gebeugte, bleiche Gesicht Diannes. »Das kommt davon, dass du
mich immer allein lässt«, flüsterte sie.
Sie stieg in ihr Bett zurück, drehte sich auf die Seite und
kehrte mir demonstrativ den Rücken zu. Ich fühlte mich
miserabel, weil ich sie in den letzten Wochen tatsächlich
vernachlässigt hatte, doch stärker als mein schlechtes Gewissen
war das Verlangen, das Bedürfnis, die Sehnsucht nach Wolfs
Freundschaft.
Er lud mich zu sich nach Hause ein, wo er mir ein Foto seiner
Mutter zeigte, die Schwarzweißaufnahme einer schönen jungen
Frau mit langen, hellen Haaren, die ihr bis fast auf die Hüften
fielen. Sie hatte sich umgebracht, als Wolf fünf Jahre alt
gewesen war – hatte sich auf ihr Bett gelegt und mit derselben
Schere, mit der sie sich zuvor die langen Haare abgeschnitten
hatte, vom Ellbogen bis zu den Handgelenken die Schlagadern
geöffnet. Wolf saß regungslos neben ihr, den Schoß voller
blonder Locken, und beobachtete, wie das Leben seiner Mutter
in ein schmutziges Laken versickerte.
Es gab Momente, manchmal nur sekundenlange, in denen ich
die Erinnerung an diesen Tag in Wolf auftauchen zu sehen
glaubte, in denen seine ohnehin stets verschleierten Augen sich
vollends verdunkelten und er für niemanden ansprechbar war.
Ich bemerkte diese Momente nur deshalb, weil ich neben ihm
saß, unsere Lehrer hielten sie für Unaufmerksamkeit. Einmal
fragte ich Wolf, ob er seine tote Mutter genauso vermisse wie
ich meinen toten Vater – eine Frage, die eigentlich nur dem
Wunsch entsprang, meine Lüge von Zeit zu Zeit aufzufrischen.
»Sie ist nicht tot«, antwortete Wolf, und er legte dabei eine
Hand auf meine Schulter, als spreche er mit einem
unverständigen Kind. »Sie hat sich nur schlafen gelegt. Wenn
sie wieder aufwacht, gebe ich ihr ihre
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