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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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sie
abschließend fest, »zählt das eigentlich nicht richtig, oder?«
Sie war beruhigt. Ein fremder Junge in Griechenland, die
flüchtigste aller Begegnungen, konnte ihr nicht zur Gefahr
werden.
Ich verbrachte ungezählte Tage allein am Rand des Teiches,
dessen schwarzes Wasser mir jetzt, nachdem ich das Meer in all
seiner Weite und, an manchen küstennahen Stellen, in all seiner
hellen, blauen Tiefe gesehen hatte, faul und brackig erschien,
und unergründlicher und furchteinflößender als je zuvor. Immer
und immer wieder versuchte ich, mir die Begegnung mit dem
Jungen vor Augen zurückzurufen, doch je mehr Anstrengung
ich darauf verwendete, desto undeutlicher und schemenhafter
wurde die Erinnerung, und ich sah nicht mehr als mein
Spiegelbild im Gesicht des dunklen Teichs. Gable hatte Recht
gehabt: Keine Zeit der Welt wäre genug gewesen.
Ich bedauerte, dass ich nichts besaß, was die Tage und – viel
wichtiger – diese eine Nacht in Griechenland für mich greifbar
machte. Als Gable wenige Wochen nach meiner Rückkehr vor
unserer Tür stand, in den Augen das gleiche wissende Lächeln,
mit dem er mich in jener Nacht zurück an Bord des Schiffes
gezogen hatte, war das einzige Geschenk, das er mitbrachte,
eine kleine, mitsamt ihrem Wurzelballen ausgegrabene
Zypresse. Ich wusste kaum, wie ich mich bedanken sollte. Mein
Herz floss über. Ich grub die Zypresse im Garten ein, unterhalb
meines Zimmerfensters. Manchmal wurde ich von dem herben
Duft geweckt, den sie nachts verströmte, und dann, im Moment
des Erwachens, in jenem kurzen Augenblick, den das
Bewusstsein benötigt, um sich vom Schlaf zu trennen, glaubte
ich, dass die Erinnerung zurückgekehrt sei.
Bald darauf war ich mir sicher, dass Dianne, die sich nach
meiner Reise und meinen Erlebnissen bisher nicht erkundigt
hatte, offensichtlich neidisch war: Wann immer ich die
Zypresse während der letzten glutheißen Wochen dieses
Sommers gießen wollte, musste ich feststellen, dass meine
Schwester mir zuvorgekommen war.
NACHTSCHATTENGEWÄCHSE
     
»DEINE FREUNDIN, DIE TOCHTER vom Direktor,
    Kat…?«
»Ja?«
»Du hast ihr nichts von uns erzählt, oder?«
»Noch nicht.«
»Sie ist eifersüchtig.«
»Sieht man ihr das an?«
»Ich glaube, sie mag mich nicht.«
Nicholas legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen.
    Wir sitzen nebeneinander auf einer Holzbank am Fluss. Der
Himmel ist bedeckt, ein tristes, flächendeckendes Grau, das
nicht zu meiner aufgekratzten Stimmung passen will.
Wenigstens hält das ungastliche Wetter die Kleinen Leute in
ihren Häusern. Weit und breit sind keine Spaziergänger in Sicht,
keine spielenden Kinder, keine Rentner, die ihre Hunde
ausführen. Wir sind allein. Blesshühner paddeln geschäftig über
das Wasser, kleine schwarze Schiffe mit spitzen roten
Schnäbeln, die sich durch vertrocknetes Schilf drängen,
blitzartig auf Tauchstation gehen und Sekunden später wie
große Korken zurück an die Wasseroberfläche schießen.
    »Warum arbeitest du in der Bibliothek?«
»Ich brauche einen Job«, sagt Nicholas, die Augen immer
noch geschlossen. »Meine Eltern haben Geld, aber sie halten
mich kurz.«
»Magst du Bücher?«
»Ich brauche einen Job«, wiederholt er.
In der Schule ist es mir schwer gefallen, schwerer als erwartet,
ihn links liegen zu lassen, nur um Kat die gewohnte
Aufmerksamkeit zu schenken. Ich wollte Nicholas anstarren,
die ganze Zeit. So, wie ich es jetzt tue. Wollte ihn berühren, ihn
küssen, ihm die Kleider vom Leib reißen; dort in der Schule, im
Klassenzimer, auf der Toilette, dem Pausenhof. Von mir aus vor
allen Leuten. Von mir aus vor Kat. Es ist völlig illusorisch,
anzunehmen, was zwischen dem Läufer und mir vorgeht, könne
ihr noch lange verborgen bleiben. Ich werde sie einweihen,
besser früher als später, und zum Teufel mit den Konsequenzen.
»Warum bist du vom Internat geflogen?«
Jetzt öffnet Nicholas die Augen, wendet sich mir zu und
lächelt. Als ob er weiß, dass er mich mit diesem schwarzen,
magnetischen Lächeln beruhigen, einlullen, zum Schweigen
bringen kann. Als ob er weiß, dass sein Blick in mir dasselbe
anrichtet, wie es der Sirenengesang meiner Mutter bei ihren
Kundinnen tut. In diesem Augenblick spüre ich, was mir fehlt,
um eine befriedigendere Antwort als dieses Lächeln aus ihm
herauszulocken: die Furchtlosigkeit vor Ablehnung, wie sie
Glass zu Eigen ist; Kats drängender, draufgängerischer Mut, mit
dem sie irgendwelche weiße Flecken auf den Seelen ihrer

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