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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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aus dem Augenwinkel heraus wahrnimmt, denn sofort rückt
er ein wenig von mir ab.
»Nicht… bitte.«
»Schon gut.«
»Tut mir Leid, ich…«
»Ist okay.«
Eine weitere Schweigeminute würde ich nicht ertragen.
Nicholas lacht, als ich ihm den Schlüssel präsentiere, den ich
von Tereza erhalten habe. Lacht auf wie befreit, verstummt
plötzlich, und seine Augen werden etwas weiter, als sehe er
mich zum ersten Mal oder als werde er mich gleich küssen mit
diesen scharfkantigen Lippen. Was er aber lässt, obwohl
niemand in der Nähe ist, der uns sehen könnte.
»Du wirst mal ein sehr schöner Mann werden, Phil, weißt du
das?«
»Ehm, danke… schätze ich.«
»Gehen wir?«
Er erhebt sich von der Bank und setzt sich in Bewegung, es
ist, als kenne er die Richtung, die wir einschlagen müssen. Ich
gehe neben ihm her, konzentriere mich auf den Klang unserer
Schritte auf dem asphaltierten, schmalen Weg, um den Impuls
zu unterdrücken, Nicholas bei der Hand zu nehmen, meinen
Arm um seine Hüfte oder seine Schulter zu legen.
»Wart mal.«
Im ersten Moment denke ich, dass er sich einen Schnürsenkel
binden will, als er abrupt stehen bleibt und sich bückt. Dann
sehe ich, dass er etwas vom Weg aufhebt. Eine Haarspange aus
mattbraunem Schildpatt mit verbogener Klammer.
»Warum machst du das?«
»Was?« Er hat sich schon wieder aufgerichtet und lässt die
Haarspange in der Hosentasche verschwinden.
»Altes Zeug aufheben. Ist mir schon öfter aufgefallen.«
Nicholas zuckt die Achseln. »Nur so. Vielleicht kann man
noch mal was mit anfangen. Es verschenken.«
»Wenn du alles einsammelst, was in der Gegend rumliegt,
müsstest du ein ganzes Lager voll davon haben.«
»Ja. Vielleicht hab ich das, oder?«
Als wir eine knappe halbe Stunde später beim Haus des
Professors ankommen, stürzen plötzlich und heftig, wie zu
allem entschlossene Selbstmörder, die ersten Regentropfen vom
Himmel. Trotzdem führe ich Nicholas erst um das Haus herum.
Dann bleibe ich neben ihm stehen. Er sieht sich um, fast
ehrfürchtig.
Es ist nicht das Haus – das ist unauffällig, ein doppelstöckiger
Bau mit Giebeldach, der sich kaum von den Häusern auf den
großzügigen Nachbargrundstücken unterscheidet -, sondern es
ist der Garten, der sofort jedermanns Aufmerksamkeit auf sich
zieht und dessen Pflege durch zwei auswärtige Gärtner sich
Tereza jährlich eine Stange Geld kosten lässt. Vom
beginnenden Frühjahr bis zum Ende des Sommers explodiert es
hier vor Blüten und Farben und Düften; im Herbst erstrahlt der
Garten, als habe es Gold und Bronze vom Himmel geregnet. Er
ist atemberaubend. Zeit seines Lebens hatte der Professor
beträchtlichen Ehrgeiz darauf verwendet, sich mit einem
Mikrokosmos der Flora dieser Welt, soweit sie in unserem
Klima gedeiht, zu umgeben, und über die Jahre und Jahrzehnte
hinweg schuf er so ein kleines Wunderwerk. Dieser Garten ist
ein atmendes, lebendes Wesen, das wuchert und krautet und
kriecht und schlingt; alles ist üppig, prall und fruchtbar. Bäume
und Sträucher stehen einzeln oder in Gruppen, kleinere Pflanzen
auf Beeten zusammengeschart als bunte Kleckse in der
Landschaft oder im Schatten gigantischer Farne. Dianne kommt
oft hierher; dank der ihr von Tereza überlassenen Herbarien des
Professors kennt sie die Namen all dieser Pflanzen auswendig.
Es sind Zwerge darunter, deren filigrane Schönheit sich nur
erschließt, wenn man sich vor sie auf den Boden legt um die
winzigen Blätter und Blüten zu studieren. Sie werden von
rotbraunen Mammutbäumen beschirmt, deren ausladende Äste
wie waagrecht in den Stamm getriebene Stangen wirken;
Bäume, die in unseren Breitengraden längst nicht die Höhe von
über einhundert Metern erreichen, die sie in Amerika haben.
Wir sind beide schon bis auf die Haut durchnässt, doch
Nicholas mustert unbeeindruckt vom Regen weiter das Haus,
das Grundstück, den Garten. Er zeigt auf eine Stelle unweit
eines geduckten Ahornbaums mit blutrotem Laub, wo der
Boden leicht uneben ist. Ich höre Diannes Kinderstimme sagen:
Jetzt sieht es so aus, als hätte die Erde einen Schluckauf gehabt.
Der kleine Hügel ist bedeckt von halbhohen, abgeknickten
Pflanzenstängeln und bereits im Verfall begriffenen, modrig
braunen Blättern.
»Was blüht da im Sommer?«
»Rittersporn«, antworte ich. »Und Glockenblumen.«
Nicholas sieht mich fragend an.
»Ich weiß es einfach«, sage ich, ziehe den Haustürschlüssel
aus der Hosentasche und klimpere ihm damit

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