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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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vor der Nase
herum. »Was ist, kommst du mit rein?«
Er nickt. Während wir das Haus umrunden, sieht er an der
Fassade empor und fragt: »Wem gehört das alles?«
TEREZA FAND DEN LETZTEN WILLEN ihres Vaters in
einer der Schubladen seines schönen, altmodisch verzierten
Schreibtisches aus rostrotem Kirschbaumholz. Tags zuvor
waren die sterblichen Überreste des Professors von H. Hendriks,
dem einzigen Bestattungsunternehmer der Stadt, in einer
Zinkwanne aus dem Haus geschafft worden – einer zerbeulten
Zinkwanne, wie Tereza später berichtete; einer Wanne, der noch
dazu, aus unerfindlichen Gründen, einer der vier seitlich
angebrachten Tragegriffe gefehlt hatte, wodurch der
Abtransport des toten Professors zu einer wackeligen
Angelegenheit geraten war. Der beleibte H. Hendriks und sein
Assistent, ein blasser junger Mann mit einem riesigen, ständig
zuckenden Adamsapfel, hatten gestöhnt und geflucht wie die
Kanalarbeiter, pietätlos, wie Tereza fand, die aber nicht die
Energie aufgebracht hatte, sich darüber zu beschweren.
Der alte Professor war zwei Abende zuvor zu Bett gegangen,
eingeschlafen und am folgenden Morgen einfach nicht mehr
aufgewacht. So jedenfalls lautete die Schlussfolgerung seiner
Haushälterin, die den längst erkalteten Leichnam vormittags
entdeckt und Tereza sofort telefonisch davon in Kenntnis
gesetzt hatte, wobei sie nicht müde geworden war zu betonen,
dies sei ein Gnadentod, wie er nicht jedem vergönnt war, weiß
Gott, ein wirklicher Gnadentod. Die Haushälterin hieß Elsie. Sie
stand seit ewigen Zeiten treu im Dienst des Professors. Elsie
gehörte zu den Kleinen Leuten, und sie war tatsächlich klein –
mit einem knappen Meter vierzig war sie gerade groß genug,
um ohne auf einen Schemel steigen zu müssen den Kaminsims
abzustauben. Am Telefon hatte sie geklungen wie eine Fachfrau
in Sachen Plötzlich und Unerwartet. Am anderen Ende der
Leitung hatte Tereza sich die Augen ausgeheult.
Jetzt saß Tereza vor den geöffneten Schubladen des
Schreibtisches auf dem Fußboden, umgeben von Stapeln teils
neuer, teils längst vergilbter Papiere, und ihre Augen folgten
dem energischen Schwung der Handschrift ihres Vaters,
verschnörkeltes Sütterlin, das abzulegen er sich zeit seines
Lebens geweigert hatte. Sie fühlte sich von Schuldgefühlen und
Selbstmitleid überwältigt – sie hatte ihren Vater nur selten
besucht, und jetzt war er tot, Besuchszeit endgültig vorüber. Der
genauso oft gefasste wie mutlos wieder verworfene Entschluss
Terezas, ihren ebenso liebevollen wie moralisch strengen
Erzeuger davon zu unterrichten, dass sie ausschließlich Frauen
liebe, würde nun nie in die Tat umgesetzt werden können, die
erhoffte Absolution ihr auf ewig verweigert bleiben.
In seinem letzten Willen legte der Professor explizit dar, wie
er sich seine Bestattung vorstellte: keine Verbrennung, kein
christliches Begräbnis. Er wollte auf seinem Grundstück
beerdigt werden, genauer gesagt inmitten seiner geliebten
Pflanzen.
Als naturverbundener Mensch wollte er keinen Sarg.
Es war ein Wunsch, den Tereza ohne auch nur eine
Augenbraue zu heben akzeptierte und, ganz gleich unter
welchen Umständen, einzulösen gedachte. Natürlich wusste sie,
dass sie damit bei den zuständigen Behörden auf taube Ohren
stoßen würde. Nicht eingesargte Leichen in irgendwelchen
Gärten zu vergraben verstieß nicht nur gegen gute christliche
Tradition, sondern, was für diesen Fall entscheidender war,
auch gegen das staatliche Seuchengesetz. Niemand würde es zu
schätzen wissen, sich mit den in Grund- und Trinkwasser
aufgelösten Partikeln eines emeritierten, zu Flüssigkeit
geronnenen Professors für Botanik den morgendlichen Kaffee
zuzubereiten oder unter dem Brausestrahl der Dusche davon
berieselt zu werden. Tereza musste sich etwas einfallen lassen.
»Abenteuerlich«, erklärten Glass und Tereza
übereinstimmend, als sie viele Jahre später die Geschichte für
Dianne und mich rekapitulierten, um unser Gedächtnis
aufzufrischen, denn schlussendlich waren wir dabei gewesen,
als es galt, den heiligen letzten Wunsch des Professors zu
erfüllen. Es war Sommer, wir saßen in der warmen
Abenddämmerung auf der Veranda Visibles und tranken
Obstpunsch. »Der Leichnam war ja schon abtransportiert
worden«, sagte Glass, »in dieser wackeligen Zinkwanne, sonst
hätte man ihn einfach verbuddeln und dann den alten Herrn als
vermisst melden können. Jedenfalls hätte uns

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