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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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wieder entglitt. »Wir hätten… hätten noch ein paar Karotten
oder so… in den Sarg legen sollen.«
»Schubkarre«, hörte ich Tereza hervorstoßen, und dieses eine
Wort, das klang wie der vergebliche Wunsch an eine durch
Abwesenheit glänzende Märchenfee, blieb, bis der Professor
endlich im Kofferraum des Wagens verstaut war und wir nach
kurzer Fahrt durch die regnerische, windige Nacht bei seinem
Haus ankamen, ihr letztes.
Aus Angst vor einer Entdeckung durch Nachbarn oder
Spaziergänger hatte Tereza nicht gewagt bei Tag ein Loch im
Garten auszuheben. Sie hatte ein freies Fleckchen unter einem
Ahornbaum als Begräbnisstätte ausgewählt, und dort lag ihr
Vater nun ins nasse Gras gebettet, die dünnen Haare inzwischen
wirr und vom Regen an die Stirn geklebt, während Tereza und
Glass die nagelneuen Schaufeln schwangen. Noch vor dem
ersten Spatenstich kramte Glass eine Zigarette aus der
Manteltasche, steckte sie an, inhalierte tief und betrachtete den
leblosen Körper zu ihren Füßen.
»Sollen wir ihn ausziehen?«, fragte sie.
Tereza schüttelte den Kopf. »Davon, dass er nackt beerdigt
werden will, war nie die Rede.«
»Hast du ihn jemals nackt gesehen?«
»Nein. Und ich habe auch nicht die Absicht, das auf den
letzten Drücker zu ändern.«
Der Regen fiel ohne Unterlass, während die beiden Frauen die
Schaufeln immer wieder in die weiche, dunkle Erde rammten
und eine Grube aushoben, die sie erst nach einer halben Stunde
als zufrieden stellend tief erklärten. Von Zeit zu Zeit nahmen sie
einen Schluck aus der Wodkaflasche, die Glass von H. Hendriks
mitgenommen hatte. Irgendwann begann meine Mutter haltlos
zu kichern.
Dianne und ich waren kein bisschen müde. Tereza hatte uns
gemütlich und trocken auf einem hohen, breiten Stoß aus
aufgeschichteten Holzscheiten platziert, der von einem
Wellblechdach geschützt wurde. Darauf hockten wir wie die
Nachteulen, die Augen längst angepasst an die Dunkelheit, und
als der schemenhafte Anblick der beiden schuftenden Frauen,
deren regelmäßige Spatenstiche das Erdreich und die Stille der
Nacht zerteilten, uns zu langweilen begann, probierten wir aus,
ob Gummibärchen sich auflösen, wenn man sie lang genug in
den Regen hält.
Schließlich wurde der Professor ganz unzeremoniell in die
Kuhle gewuchtet, ein lebloses Gewicht, in sich
zusammengefallen wie eine Marionette, der man die Fäden
abgeschnitten hatte. Tereza und Glass schippten die klumpige
Erde auf den Leichnam, dann krochen sie auf Händen und
Knien über das Gras, um die Erde mit Steinen zu beschweren.
Die langen, nassen Haare hingen ihnen wirr in die Gesichter, die
Kleidung klebte an ihren Leibern, und was von der neuen
Unterwäsche meiner Mutter sichtbar war, der geklöppelte Saum
aus hübscher weißer Spitze, den ich so bewundert hatte, war
inzwischen von derselben Farbe wie das Braun ihres Mantels.
Dianne zeigte mit einem Finger auf das frisch entstandene
Grab. »Jetzt sieht es aus, als hätte die Erde einen Schluckauf
gehabt«, sagte sie.
»Und nun?« Glass hatte sich aufgerichtet, stützte sich auf die
Schaufel und sah Tereza fragend an. »Soll ich was singen? In
der Highschool habe ich mal What I Did For Love -«
»Halt die Klappe, Glass«, murmelte Tereza.
Glass murrte. »Aber sollte man nicht wenigstens ein Gebet
sprechen?«
»Beten wir, dass es aufhört zu regnen«, schnaufte Tereza mit
Blick auf den Hügel. »Wenn ich mir vorstelle, dass die Erde
weggeschwemmt wird, wird mir ganz schlecht.«
»Mir ist auch schlecht«, piepste Dianne neben mir. Das war
ihre einzige Warnung. Kaum dass der Satz beendet war, beugte
sie sich über den Rand des Holzstoßes, um einen Schwall halb
verdauter bunter Gelatine zu erbrechen, und das war, aus mir
ganz und gar unerklärlichen Gründen, das Signal für Tereza,
endlich ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Ihr ganzer Körper
zuckte und erbebte, sie ließ sich auf die Knie fallen und schlug
mit geballten Fäusten auf das Gras und die klebrige, nasse Erde
ein, und sie warf den Kopf in den Nacken und heulte. Ihr Mund
stand dabei so weit offen, dass ich befürchtete, sie würde im
Regen ertrinken.
»Und dann, gerade mal zehn Stunden später, die Beerdigung«,
sagte Glass im Plauderton. »Von Regen keine Spur mehr, im
Gegenteil. Strahlender Sonnenschein!«
Jeder Mensch sollte bei mäßigem Wind und unter einem
Himmel voller Schäfchenwolken bestattet werden. Der Friedhof
lag am äußeren östlichen Stadtrand. Eine

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