Andreas Steinhofel
windschiefe,
verwitterte Kapelle stand auf der Spitze eines Hügels;
hangabwärts ergoss sich kaskadengleich, in der Form sieben
oder acht halbkreisartig angelegter Terrassen, durchsetzt von
hohen, dicht belaubten Bäumen, der Gottesacker der Kleinen
Leute. Der Professor hatte sich schon vor Jahren einen Platz
neben seiner früh verstorbenen Frau gesichert, fünfte Etage von
unten, Blick ins Tal und über den Fluss. Selbst das
zinnengekrönte Dach Visibles war, wie ich entzückt feststellte,
von hier oben aus zu sehen. Die Luft war angenehm warm, eine
leichte Brise trieb den Geruch vermodernder Blumen von einem
ein wenig abseits gelegenen Komposthaufen über den Friedhof.
Hier und dort wogten feine Schleier aus Wasserdampf über den
Boden, wo die wärmende Sonne den Regen der vergangenen
Nacht aus dem Erdreich lockte, und auf einzelnen Grabsteinen
standen kleine Engel aus bleichem Marmor, geduldig wie
Puppen, die darauf warteten, dass man mit ihnen spielt.
Von der Trauerzeremonie in der Kapelle hatte ich nichts
mitbekommen, ich war, noch erschöpft von der vergangenen
Nacht, eingeschlafen. Aber jetzt war ich hellwach und
bewunderte Tereza. Sie sah wunderschön aus, trotz der viel zu
dunklen Ringe unter den Augen. Sie trug ein tiefblaues Kleid
und Handschuhe, die ihre wunden, vom nächtlichen Schaufeln
mit Blasen übersäten Hände verbargen. Selbst Kollegen des
Professors aus dem Ausland hatten es sich nicht nehmen lassen
anzureisen, und während eine nicht enden wollende Schlange
schwarz gekleideter Menschen an dem ausgeschachteten Grab
vorbeidefilierte, um dem Professor ein letztes Lebewohl zu
wünschen und seinen Sarg mit einem Schippchen Erde zu
bewerfen, hörte Tereza sich tapfer Beileidsbekundungen in mir
unverständlichen Sprachen an, schüttelte ungezählte
Händepaare und stand dabei bewegungslos, tränenlos, wie eine
aus Mitternacht gegossene Statue.
Auch Glass hatte rote Augen, die allerdings weniger ihrer
Trauer als übermäßigem Wodkagenuss und der ausgewachsenen
Erkältung, die sie sich in der letzten Nacht zugezogen hatte, ihr
Dasein verdankten. H. Hendriks schielte aus dem Hintergrund
zu ihr hinüber und warf ihr zu, was er für flammende Blicke
halten musste, wurde aber von ihr ignoriert. Falls er sich je die
Frage stellte, warum Glass, die ihres schlechten Rufes wegen
der Beerdigung nicht hatte beiwohnen wollen, es sich nun
anders überlegt hatte und doch hier aufgetaucht war, so blieb
dieses Rätsel für immer unbeantwortet. Dessen ungeachtet rief
Hendriks in den folgenden Tagen immer wieder in Visible an
und ließ Glass erst in Ruhe, als sie entnervt damit drohte, ihm
eine Geschichte anzuhängen, in der es um sie selbst, H.
Hendriks und die erotische Zweckentfremdung von
Eichensärgen ging. Der Mann tat ihr nicht Leid. Es gab nie
einen Mann, der ihr Leid tat.
Dianne und ich beobachteten aufmerksam, wie jeder der
Anwesenden ein wenig klamme Erde in das Grab schippte. Die
treue Elsie blieb lange, länger als irgendwer sonst, am Rand der
sonnenerhellten Grube stehen, schniefend, das Schippchen fest
in der zitternden rechten Hand. Und für einen bangen Moment
schien es, als sollte Tereza Recht behalten mit der Vermutung,
dass Elsie den Professor geliebt habe, denn plötzlich knickten
die Beine der kleinen Haushälterin ein, ganz kurz nur, so dass
man glauben konnte, sie setze zu einem beherzten Sprung an.
Entweder Liebe oder Kreislaufversagen, vermutete Glass später,
und eigentlich wäre das egal, denn es liefe ungefähr auf das
Gleiche hinaus.
Als die Reihe an Dianne und mir war und wir, Hand in Hand,
an das offene Grab getreten waren, tippte Dianne den neben uns
stehenden Pfarrer an, einen mir unheimlichen, hageren Mann
mit fliehendem Kinn, der mit Argusaugen den reibungslosen
Ablauf des Rituals überwachte. »In der Kiste da unten«, sagte
Dianne, »da sind nur Kartoffeln drin.«
»Sicher, mein Kindchen, sicher«, erwiderte der Pfarrer
verständnisvoll. Er legte ihr eine skelettartige Hand auf die
Schulter und musterte dabei Glass, die ihrer Tochter dieses
unchristliche Zeug erzählt haben musste, mit einem Blick
grenzenloser, kaum verhohlener Wut. Den meine Mutter aber
nicht bemerkte, weil sie über das offene Grab hinweg, trotz
ihres Niesens und Schnäuzens, hemmungslos mit einem der
Trauergäste flirtete, einem gut aussehenden, schwarzhaarigen
Mann mit bronzebrauner Haut und honigfarbenen Augen;
schöneren Augen, als ich sie
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