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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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betrachteten, die
zwischen den samtgepolsterten Sargwänden lag wie ein
überdimensioniertes, in weißes Packpapier eingeschlagenes
Geschenk. Bis auf das weit entfernte, pfeifende Atmen des
dicken Mannes aus dem Nachbarzimmer war alles ganz stül.
»Der lacht ja«, sagte Dianne nach einer Weile. »Und komisch
riechen tut er auch.«
Der Professor sah durch und durch friedvoll aus, aber er war
von H. Hendriks weder fertig präpariert noch vollständig
geschminkt worden. Zumindest fehlte es im Gesicht an
abdeckendem Puder, denn die winzigen Knoten in den Enden
der Drähte, mit denen die Kinnlade an den Oberkiefer gezurrt
war, waren nicht zu übersehen; sie schimmerten matt im kalten
Neonlicht. Dianne und ich hatten Terezas Vater nur ein einziges
Mal lebend zu Gesicht bekommen. Da der Professor mit
Kindern ungefähr so viel anzufangen wusste wie mit einem
Kropf, hätte er vermutlich keinen bleibenden Eindruck auf uns
hinterlassen, wäre er nicht, als Tereza uns ihm vorstellte, mit
den Armen in ein wildes Rudern ausgebrochen, als wären wir
lästige Insekten, die es zu verscheuchen galt. Er hatte so witzig
ausgesehen mit seinen rotierenden Armen, dass Dianne und ich
in lautes Kichern ausgebrochen waren, was des Professors
Irritation nur verstärkt, zu heftigerem Gewedele und letztlich zu
kreischendem Gelächter unsererseits geführt hatte. Jetzt lagen
die Wedelarme bewegungslos längs des toten Körpers. Ich
betrachtete die Hände und staunte, dass sie kaum größer waren
als meine. Ein erwachsener Mann mit kleinen, anmutigen,
blumenzarten Händen.
Eine andere Hand schob sich in mein Blickfeld, die
ausgestreckte Hand Diannes. Ich nahm an, dass sie den toten
alten Mann streicheln wolle. Aber meine Schwester, der nur ein
Jahr darauf eine kleine Schnecke aus dem linken Ohr entfernt
werden sollte, hatte lediglich vor, sich auf ihre Art und Weise
von dem alten Professor zu verabschieden. Sie hatte etwas aus
ihrer Hosentasche gefischt. Ohne viel Aufhebens, aber mit dem
gebotenen feierlichen Ernst, schob Dianne dem toten Mann mit
den kleinen Händen ein rotes Gummibärchen tief ins linke
Nasenloch. Die im Auto zurückgelassene Jumbotüte, unsere
zweite und letzte, ging langsam zur Neige, es blieb ein karger
Vorrat für die uns noch bevorstehende lange Nacht, und das
erhob in meinen Augen Diannes Abschiedsgeschenk in den
Rang eines geradezu fürstlichen Opfers. Wir sprangen rasch von
dem Schemel, als Glass und Tereza zurück in den Raum kamen,
mit leisem Keuchen, zwischen sich den ersten der drei im
Supermarkt erstandenen Kartoffelsäcke.
»Die teure Sorte«, erinnerte sich Glass. Sie sah von der
Veranda in den sich verfärbenden Abendhimmel und goss uns
allen Punsch nach. »Kleine, knubbelige gelbe Dinger. Nie
werde ich den Namen vergessen – Clementia, fest kochend! Ich
frage mich heute noch, warum jemand Kartoffeln kochen sollte,
die nicht weich werden.« Sie stellte den Krug ab. Tereza
verdrehte die Augen.
Der Austausch des Professors gegen die Kartoffelsäcke erwies
sich als schweißtreibende Angelegenheit. Dianne und ich
standen wieder auf dem Schemel, den wir etwas abseits gerückt
hatten, und beobachteten schweigend, wie Tereza einen Arm
des Leichnams ergriff, der sich, wie sie zufrieden feststellte,
mühelos auf und ab bewegen ließ; sie hatte mit Leichenstarre
gerechnet, doch die war bereits vorüber. Die schlackernde
Bewegung, die sie mit dem toten Arm vollführte, glich auf fast
unheimliche Art und Weise dem irritierten Herumgewedle des
Professors, an das ich mich jetzt erinnerte. Ich hielt mir den
Mund zu, um das aufsteigende Kichern zu unterdrücken.
Tereza und Glass ergriffen den Professor bei je einer Hand
und zerrten ihn ruckartig in eine sitzende Position. Der Kopf des
Professors kippte zur Seite. Ein leises Zischen ertönte, als Luft
aus seiner Nase entwich. Glass schrie erschreckt auf, ließ den
Leichnam los und machte einen Satz nach hinten. Der Professor
kippte zur Seite, und sein Kopf dotzte mit einem trockenen
Geräusch auf die Sargkante.
»Bitte!«, zischte Tereza.
»Tut mir Leid, Darling. Ich hab mich nur…« »Schon gut. Jetzt
noch mal.«
Dianne und ich tänzelten aufgeregt nebenher, während der
Professor durch das Institut geschleift und gezogen, gezerrt und
gewuchtet wurde. »Niemals sind das fünfundsiebzig Kilo«,
ächzte Glass auf halbem Weg. Ihre Stimme kam aus der
Achselhöhle des störrischen Leichnams, der ihrem Griff immer

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