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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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je wieder sehen sollte. Ich
beobachtete, wie dieser schöne Mann sich langsam einen Weg
durch die Menge bahnte. Kurz entschlossen packte ich Dianne
bei der Hand, entzog sie dem Knochengriff des Pfarrers und
marschierte instinktiv los.
»Schaufel!«, zischte der Pfarrer.
Ich ließ die Schaufel achtlos fallen und kämpfte mich mit
Dianne durch einen dichten Wald aus schwarzen Beinen. Dann
standen wir vor Glass und neben dem Mann, der sich unserer
Mutter bereits, murmelnd und in gebrochenem Englisch, als
argentinischer Privatdozent für spezielle Botanik – subpolare
Moose und Flechten – vorstellte. Glass gab etwas
Unverständliches zurück. Ich zupfte den Mann am Hosenbein.
Er sah zu mir herunter und lachte, ein blendend weißes Lachen,
und im nächsten Augenblick schwebte ich in der Luft,
emporgerissen von zwei langen, starken Armen. Ich fühlte mich
wie in eine Schiffschaukel gezerrt oder in ein wirbelndes
Kettenkarussell, blau blitzte der Himmel, weiß die Wolken,
schwarz die Menschen; dann saß ich auf den Schultern des
Argentiniers.
Amerika, dachte ich, Amerika, Amerika…
Ich war überrascht, wie anders der Höhenunterschied mich die
Welt wahrnehmen ließ. Da war der terrassenartige Friedhof,
scheinbar grenzenlos in all seiner von Spielzeugengeln
bewachten, melancholischen, efeuüberwucherten Pracht. Da
war Dianne, die zu mir auflachte und dem schönen Mann aus
Südamerika die Hände entgegenstreckte – sie wollte auch, und
sie sollte auch, doch noch durfte ich mich weiter umschauen,
sah eine kopfschüttelnde, empörte Elsie und den hageren
Pfarrer, der kurz davor stand, nun vollends die Fassung zu
verlieren, sah Glass mit ihren geröteten Augen und sah Tereza,
die hinter ihrem Schleier lächelte; sah die Menschen, die um das
schmale Loch im Boden geschart waren wie schwarze Trauben,
die sich an ihre Rebe klammern und die den Argentinier und
mich mit missbilligenden Blicken maßen; sah den Horizont, ein
flimmerndes, streifenartiges Trugbild unter der Mittagssonne,
und ich war der stolzeste Reiter der Welt, ich warf in stillem
Jubel die Arme hoch. Das Leben war wunderbar, der Tod eine
Erfindung.
Dann wurde ich von den Schultern gehoben, die Reihe war an
Dianne, und mir blieb nicht mehr zu tun, als diesen schönen
Mann anzuhimmeln, den Stoff seiner Hose zu berühren, sein
Bein zu umklammern, noch außer mir vor Glück. Ich hätte
nichts gegen einen Flechtenspezialisten als Familienoberhaupt
gehabt, doch der Argentinier reiste nach nur einer einzigen in
Visible verbrachten Nacht wieder ab, und ich dachte traurig an
die arme, arme Tereza, die nun auch keinen Vater mehr hatte.
»Als Kind«, sagte Tereza, als der Punsch sich dem Ende
zuneigte, die Sonne versunken war und die ersten Mücken
kamen, »als Kind war ich, wie wahrscheinlich jede Tochter es
ist, in meinen Vater verliebt. Was an tausend Dingen lag, vor
allem aber an seinen Augen. Ihr wisst ja, er hatte diese schönen,
tiefblauen Augen. Wenn ich heute durch seinen Garten gehe,
sehe ich mir den Rittersporn an oder die Glockenblumen und
bilde mir ein, dass die Pigmente, die siebzig Jahre lang seine
Augen blau färbten, jetzt irgendwo in den Blüten dieser
Pflanzen herumschwirren.«
Ich sah Dianne an, die nickte und grinste und in diesem
Moment vermutlich dasselbe dachte wie ich: dass in einem Teil
der roten Pflanzen – in den Blütenblättern der Rosen oder der
Dahlien vielleicht – die Pigmente eines längst vergessenen, in
ein trockenes Nasenloch eingeführten Gummibärchens
schimmern mochten.
Im ersten Frühjahr nach der Beerdigung hatte Glass jeden Tag
den Friedhof besucht, nicht um dem Professor Respekt zu
zollen, sondern von der Angst getrieben – unbegründet, wie
Tereza mehrfach versicherte -, die Kartoffeln könnten zu
keimen begonnen, die Keime sich durch das Holz des Sarges
und das darüber liegende Erdreich gearbeitet und auf dem Grab
erste grüne Sprossen getrieben haben.
»Solanaceae«, sagte Tereza und schlug nach einer Mücke.
»Nachtschattengewächse. Genauso wie die Tollkirsche – Atropa
belladonna. Mit ihrem Gift in geringer Dosierung erweitern
manche Frauen noch heute ihre Pupillen, um sich anziehender
zu machen.«
Dianne legte den Kopf schräg.
»Und mit dem Gift in höherer Dosierung«, ergänzte Tereza
trocken, »können sie mit etwas Glück aus der Welt schaffen,
was sie sich mit ihrer gesteigenen Anziehungskraft eingebrockt
haben.«
Dianne, die aufmerksam gelauscht

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