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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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herumspielt, ist auch das nicht
verrückt. Verrückt ist, wenn das fehlende Namensschild einer
Krankenschwester mich in Panik versetzt, ein Häuflein
herumtorkelnder Betrunkener, das Klackern einer defekten
Schreibmaschine um ein Uhr morgens. Verrückt ist, dass Glass,
Dianne und ich nicht nach den Regeln der Kleinen Leute leben,
dass jeder von uns Grund genug hat, sich als Außenseiter zu
empfinden, dass wir so viel mehr miteinander gemein haben als
nur das Blut, das durch unsere Adern fließt, und dass es uns
trotzdem unmöglich ist, miteinander zu reden.
FÜR DIE LIEBE
    AM NÄCHSTEN MORGEN warte ich vor der Schule auf
Kat. Im Osten liegt die Sonne wie eine goldene Seifenblase auf
den Hügeln. Sie strahlt mit einer Selbstverständlichkeit, als
würde ihre Sommermacht immer und ewig währen, als hätte
nicht der Herbst schon längst seine feuerroten Hände nach dem
Land ausgestreckt. Die Luft ist frisch und klar wie kaltes
Wasser. Es ist ein guter Morgen, um vor Kat meine Beichte
abzulegen.
    Ich sehe sie auf der anderen Straßenseite. Als sie mich
entdeckt, winkt sie mir zu und beginnt zu laufen, ungeachtet
wütend hupender und zum Bremsen gezwungener Autos. Sie
kommt nie mit ihrem Vater zur Schule. Oft denke ich, dass der
respektvolle Abstand, den die meisten Schüler zu ihr halten –
der Direktorenradius, wie Kat ihn nennt -, ihr trotz gegenteiliger
Beteuerungen doch zu groß ist. Verständlich, dass sie keine
zusätzlichen Minuspunkte auf ihrem Konto sammeln will, nur
weil man sie allmorgendlich wie eine Diva humanistischer
Bildungsideale aus dem Wagen des Schulleiters steigen sieht.
    »Irgendwann schafft ihr es noch auf die Titelseiten der
überregionalen Presse«, begrüßt sie mich. »Die Sache mit
Dianne ist schon überall durch!«
    Ich zucke die Achseln. Ich hatte nicht vor, über Dianne zu
reden, auch wenn ich bereits geahnt habe, dass es sich nicht
vermeiden lassen wird. Sie hat ihr Zimmer heute Morgen gar
nicht erst verlassen. Als ich anklopfte, erhielt ich durch die
geschlossene Tür hindurch eine Abfuhr, nicht allzu harsch, aber
unmissverständlich. Glass hat sich, wie üblich nach Streitereien,
so verhalten, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Was
allerdings auch daran gelegen haben mag, dass Michael sie, als
ich zum Frühstück in die Küche kam, gerade geduldig in das
Geheimnis der Zubereitung unversalzenen Rühreis einweihte.
    »Also?«, sagt Kat erwartungsvoll.
»Also was?«
»Was ist letzte Nacht passiert?«
»Wie viele Variationen kennst du?«
»Ungefähr drei bis elf.« Sie pustet sich die Haare aus der
Stirn. »Na, sagen wir zwei. Jedenfalls ist meine Mutter zweimal
allein während des Frühstücks angerufen worden.«
    Die Telefone müssen heute Morgen in der ganzen
verdammten Stadt geklingelt haben. Dianne wird gewusst
haben, warum sie sich dazu entschlossen hat in Visible zu
bleiben. Allmählich füllt sich der Schulhof, und ich höre von
allen Seiten Getuschel; immer wieder werden mir unverhohlen
neugierige Blicke zugeworfen. Der Totenschädel mit der
Heliumstimme hat, wie erwartet, ganze Arbeit geleistet. Ich
wünsche ihm aus tiefstem Herzen, dass er sich im Krankenhaus
irgendeine widerliche Infektionskrankheit einfängt. Nicht nur,
weil er mit einer zweifellos entstellenden Kolportage der
gestrigen Geschehnisse alte Wunden wieder aufgerissen hat,
sondern weil mit jeder Sekunde, die im Gespräch über dieses
Thema zwischen Kat und mir vertickt, tiefe Locher in den
Damm meiner Entschlossenheit gerissen werden, ihr von mir
und Nicholas zu erzählen. Plötzlich erscheint mir der Morgen
viel weniger hell als noch vor einer Minute.
»Nun sag schon«, drängelt Kat, »was ist dran an der
    Geschichte?«
»Weißt du eigentlich, dass du genauso sensationslüstern bist
wie der Rest der Meute?«
Sie hebt abwehrend die Hände. »Ehrlich, Phil, ich finde das
nicht so abwegig, dass sie den Hund auf den Typen gehetzt
haben soll! Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie
damals mit dieser Eidechse – «
»Kat, ich bin mit dem Läufer zusammen.«
Es ist bestimmt nicht die eleganteste Art, sie zum Schweigen
zu bringen. Aber eine sehr effektive. Kats Mund klappt zu, als
hatte ich ihr einen Kinnhaken versetzt. Auf ihrer Stirn erscheint
eine winzige steile Falte. Zwei oder drei Herzschläge lang starrt
sie mich bloß ungläubig an.
»Das ist ein Witz, oder?«, sagt sie endlich.
»Kein Witz.«
»Seit wann?«
»Seit ungefähr einer Woche.«
»Mit

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