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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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ausgegossen wird. Glass schafft es,
während der höchstens fünfminütigen Fahrt zwei Zigaretten zu
rauchen. Erst als wir in Visible angekommen und aus dem
Wagen gestiegen sind, wendet sie sich an Dianne. Die Situation
eskaliert in Sekunden.
»Okay…« Glass holt tief Luft. »Hast du, oder hast du nicht?«
»Hab ich was?«
»Den Hund auf diesen Jungen gehetzt.«
»Was soll das, Glass?« Dianne stemmt eine Hand in die
Hüften, eine Geste, von der ich nie geglaubt hätte, dass sie zu
ihr passt. »Warum glaubst du einem wildfremden Typen mehr
als mir?«
»Weil ich dich kenne.«
»Wenn du mich kennen würdest, würdest du nicht solche
Fragen stellen.«
»Wie soll man jemanden wirklich kennen, der sich so
durchgedreht benimmt, wie du es tust?«
»Durchgedreht?« Dianne strafft ihre Schultern. »Was ist
durchgedreht daran, wenn man Freundinnen hat, die sich für
andere Dinge interessieren als für irgendwelche Typen oder fürs
Ficken?«
Selbst mich trifft das Wort wie ein Keulenschlag. Glass
müsste unter der ungebremsten Wucht der Anklage
zusammenbrechen. Ich frage mich, wie viel Energie sie noch
hat, wie lange sie diesem Kräftemessen mit Dianne noch
standhalten kann.
»Das geht mich nichts an«, sagt Michael knapp.
Er geht ins Haus. Glass sieht ihm nach und wartet, bis das
Licht in der Eingangshalle aufflammt. Dann wendet sie sich
wieder an Dianne. »Hab ich irgendwas falsch gemacht?«
»Willst du darauf wirklich eine Antwort?«
»Ja, verdammt, ja!«
»Wie viel Zeit hast du?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, stapft Dianne davon, nicht
ins Haus, sondern in Richtung der Bäume, die hinter dem
Holzschuppen in den Nachthimmel ragen. Glass blickt
resigniert zu Boden und stochert mit der Spitze eines Schuhs im
Kies herum. Sie schüttelt den Kopf.
»Ich geb’s auf.«
»Mum, du hast es doch gar nicht richtig versucht!« Ich bin mir
sicher, dass Dianne nicht weit gelaufen ist. Vermutlich ist sie
noch in der Nähe und lauscht, so wie sie Glass und deren
Kundinnen belauscht. »Warum gehst du ihr nicht -«
»Hör zu, Phil!« Ihr Kopf schnellt hoch. Ein Zeigefinger
schießt auf mich zu, als wolle er mich durchbohren. »Du hast
keine Ahnung, verstehst du? Keine Ahnung!«
»Gut, das lässt sich ändern! Ich bin hier, ich laufe nicht
davon! Was ist es? Was stimmt nicht zwischen dir und
Dianne?«
»Nichts, wobei du mir helfen könntest.«
»Wer sagt, dass ich irgendjemandem helfen will?« Es ist zum
Durchdrehen. »Ich will nur endlich wissen, was mit euch beiden
los ist. Ich habe ein Recht darauf!«
»Nein, das hast du nicht! Also tu mir einen Gefallen und halte
dich aus dieser Sache raus!«
»Was für eine Sache?«
»Herrgott, Phil, wenn es dich so sehr interessiert, warum
fragst du dann nicht deine Schwester?«
»Weil sie, verdammt noch mal, genauso störrisch ist wie du!«
»Ich gehe ins Bett.«
Glass wendet sich ab und strebt schnell auf das Haus zu. Ich
möchte ihr nachlaufen, sie festhalten und schütteln. Ich kann
nicht glauben, dass sich zwischen uns fast bis aufs Wort genau
der gleiche Dialog wiederholt hat wie der, den ich mit Dianne
hatte, als ich vor drei Jahren aus Griechenland zurückkam.
»Scheiße«, flüstere ich.
Wolken treiben über den Nachthimmel, nähern sich dem
Mond und verwandeln sich in bronzefarbene kleine Schiffe. Ich
höre ein Rascheln. Dianne steht nahe dem Schuppen, kaum
sichtbar zwischen den Bäumen, deren tief herabreichende
Zweige und Äste sie umschließen, so dass sie eins wird mit
Holz und Rinde und Laub.
»Dianne?«
»Lass mich in Ruhe, Phil.«
»Willst du nicht reinkommen?«
»Gleich.«
»Hör mal, ich…«
»Ein andermal. Mir ist schlecht. Ich bin müde. Lass uns
irgendwann später reden.«
Ich bleibe stehen und warte, eine Minute, zwei, ohne dass
Dianne sich noch einmal rührt oder etwas sagt. Je länger sie dort
zwischen den Bäumen verharrt, umso mehr verschwimmen für
mich ihre Konturen, bis sie sich schließlich aufgelöst hat in der
Dunkelheit. Vielleicht nimmt auch sie mich nicht mehr wahr.
Vielleicht hat sie die Augen geschlossen und lauscht der Nacht,
wartet darauf, dass die Wolken wieder aufreißen, der Mond sie
mit seinem Licht übergießt, sie in schützendes Silber hüllt.
Menschen tun verrückte Dinge bei Vollmond.
Wenn zwei Mädchen sich nachts am Fluss treffen, um mit
sich allein zu sein und nackt zu baden, ist das nicht verrückt.
Wenn ein Junge ihnen nachschleicht, sie heimlich beobachtet
und dabei ein bisschen an sich

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