Andular II (Die Erneuerung des Kreises) (German Edition)
viele kleine Muster zu erkennen, die von den Oberarmen und Schultern in feinen Linien auf die Brust zuliefen und dort etwas bildeten, das einem Gesicht ähnelte. Und tatsächlich – als Jesta seinen Kopf etwas zur Seite neigte, sah er ganz deutlich, wie die blauen Linien zwei Augen, Wangen, Kinn und einen geraden schmalen Mund formten.
Je länger der Durandi auf das merkwürdige Gebilde starrte, desto mehr verstärkte sich sein Eindruck, dass es wirklich ein Gesicht war. Auch wenn dieses keine Nase hatte und so eher einer Fratze glich. Einer ausdruckslosen, schlafenden Fratze.
„Pst…Narlo…wach auf, du hast Besuch!“, flüsterte Candol über das Ohr des Mannes gebeugt.
Und da passierte etwas sehr Seltsames. Die von den Linien geformten Augen zuckten plötzlich zusammen, blinzelten mehrmals und öffneten sich schließlich ganz. Und im selben Moment öffneten sich auch die Augen des Mannes.
„Hallo, Narlo!“, sagte Candol, woraufhin sich ein heiteres Lächeln auf das bärtige Gesicht des Mannes legte.
Dann öffnete er seinen Mund und erzeugte ein Geräusch, das Jesta nie zuvor gehört hatte: Es war weder ein Seufzen noch ein Lachen, sondern vielmehr ein eigenartiges dumpfes Gurren, das ihn an ein tiefes, herzhaftes Gähnen erinnerte.
„Candol, du hier?“, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme, doch die Worte kamen nicht aus Narlos Mund, denn der war bereits wieder geschlossen. Das Gesicht auf seiner Brust hatte sie ausgesprochen, und im Gegensatz zu Jestas Mund, der nun sperrangelweit aufstand, hatte sich der des von den Linien geformten Gesichts zu einem weiten Lachen geformt.
„Tut mir leid, dass wir dich wecken mussten, Narlo“, sagte Candol und schüttelte die Hand des Mannes, der sich nun erhob. „Wie geht es dir? Was macht die Ernte?“
„Sehr gut, sehr gut!“, antwortete das gemalte Gesicht. „Es macht nichts, dass du mich geweckt hast. Für solch angenehmen Besuch lässt man sich doch gerne wecken, nicht wahr? Außerdem wollte ich heute sowieso etwas früher aufstehen. Die neuen Felder im Westen müssen besät werden, und das macht man am besten bei Tage. Aber erzähl, was treibt dich hierher nach Kumai?“
„Das ist eine sehr lange Geschichte!“, antwortete Candol, doch kaum hatte er es ausgesprochen, da machte Narlo auch schon einen Satz aus seiner Hängematte und antwortete: „Macht nichts, ich habe Zeit! Tee?“
„Oh, ja bitte!“, antwortete der Zauberer erfreut. „Nach dem was wir hinter uns haben, ist eine Tasse heißer Tee genau das Richtige!“
„Und ihr?“, fragte Narlo und wandte seine kräftige Statur an Jesta und den Vanyanar. „Auch Tee? Oder lieber etwas anderes? Ich habe auch ausgezeichneten Wein und sogar noch ein Fass Bier aus Brahn!“
„Ich nehme auch eine Tasse Tee“, antwortete Jesta, der immer noch auf Narlos Brust starrte und sich nicht entscheiden konnte, in welches der zwei Gesichter er schauen sollte.
„Ah! Du wunderst dich sicher, warum ich nicht mit meinem richtigen Mund spreche, was?“, sagte Narlo und schlüpfte in eine schwarze Weste. „Nun, ich kann es nicht! Ich bin stumm, jedenfalls seit jenem Tag, an dem mir die Garlan meine Zunge herausgeschnitten haben, als sie unser Dorf überfielen. Aber dank meines alten Freundes hier“, er schlug dem Zauberer kräftig auf die Schulter, „bin ich dennoch in der Lage, mich meiner Umwelt mitzuteilen!“
Der Zauberer sah die Verwunderung im Gesicht des Durandi und so fügte er hinzu: „Ich habe Narlo vor etlichen Jahren eine Möglichkeit gegeben, um wieder sprechen zu können.“
„Aber wie?“ Jestas Blick klebte förmlich auf Narlos zweitem Gesicht.
„Ich habe das Gesicht mit Avakas Feder gezeichnet“, erklärte Candol und malte mit Daumen und Zeigefinger einen Schnörkel in die Luft.
„Das hat er, so war ich Narlo heiße! Hat ganz schön wehgetan, aber ist doch eigentlich recht hübsch geworden, nicht wahr?“
„Aber wenn das stimmt, müsste euer Gesicht auf der Brust doch nur des Nachts sichtbar sein, oder?“
„Nein“, erwiderte Candol. „Avakas Feder hat der Tinte nur die Magie verliehen. Die Tinte an sich ist aus verschiedenen Blüten und Kräutern hergestellt und wird wohl oder übel bis in alle Ewigkeit auf Narlos Haut sichtbar sein.“
„Hoffentlich!“, fügte Narlo hinzu und rieb sich die Brust. „Das Gesicht, so wie es jetzt aussieht, war meine Idee! Ein exaktes Abbild meiner selbst in jungen Jahren! Da mir meine knollige Nase aber noch nie gefallen hat, haben wir
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