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Anemonen im Wind - Roman

Anemonen im Wind - Roman

Titel: Anemonen im Wind - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamara McKinley
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tappte.
    »Du bist früh wieder da«, sagte Charlie fröhlich und blickte von einer alten Zeitung auf. Er schenkte ihr eine Tasse Tee ein und widmete sich wieder seinem Lunch.
    »Warum bist du nicht gekommen, um uns zu helfen?« Sie ignorierte den Tee und machte sich daran, die Dinge zusammenzutragen, die Wang Lee brauchte. »Du musst mich doch rufen gehört haben.«
    Er nahm einen Schluck Tee. »Ich hab ja gesehen, dass ihr zurechtkommt«, sagte er. »Außerdem bin ich nicht kräftig genug, um einen Schwarzen durch die Gegend zu schleppen.«
    Ellie funkelte ihn an. »Sein Name ist Billy«, sagte sie eisig. »Und er wiegt nicht viel.«
    Charlie zuckte die Achseln und kaute auf seinem Sandwich.
    Ellie hatte nicht übel Lust, ihm den Tee ins Gesicht zu schütten, aber sie war zu erschöpft. Sie nahm Handtücher und Waschschüssel und ging zur Tür. »Sieh zu, dass du dich nicht übernimmst, Charlie«, sagte sie, und ihre Stimme troff von Sarkasmus.
    Das Dröhnen eines Geländewagens, der die Zufahrt herauffuhr, ließ sie innehalten. Sie drehte sich um und schaute aus dem Fenster. »Nein«, flüsterte sie. Ihre Hände umklammerten die Handtücher, und Wasser schwappte aus der Schüssel. »Bitte mach, dass er es nicht ist.«
    »Vor wem hast du Angst?«
    Charlie stand neben ihr, und Ellie wich ihm aus, als er seinen Arm um ihre Taille legen wollte. Sie sah zu, wie der Wagen knirschend zum Stehen kam. Sah zu, wie der Besucher ausstieg und sich den Staub von den Kleidern klopfte. Es gab kein Entrinnen. Düstere Vorahnungen überwältigten sie, als sie Wang Lee Wasser und Tücher reichte, und sie bewegte sich wie ein Automat zur Tür.
    »Ich wollte nicht, dass Sie das hier mit der Post bekommen«, sagte der Priester zögernd. »Wenn ich irgendwie helfen kann, scheuen Sie sich nur nicht, es mir zu sagen.« Er reichte ihr einen großen braunen Umschlag.
    Ellie sah die militärischen Stempel, die Briefmarken, die unbekannte Handschrift. Mit zitternden Fingern riss sie den Brief auf. Quälender Schmerz zerriss sie, als alle ihre unzustellbaren Briefe zu Boden flatterten. Sie fiel auf die Knie, und ihre Hände schwebten über den Briefen, sammelten sie auf, drückten sie an die Brust. »Nein!« Ein lang gezogener Schrei der Verzweiflung und unerfüllter Hoffnungen zerriss die Stille des Vormittags und hinterließ eine furchtbare Leere.
    »Die Army hat große Stücke auf Joe gehalten«, sagte der Priester leise und kniete neben ihr nieder. »Sie hat ihm postum einen Tapferkeitsorden verliehen.« Er hielt ihr eine kleine Schachtel entgegen. »Die Urkunde ist im Umschlag. Es tut mir Leid, Ellie.«
    Sie hörte ihn kaum, war blind für alles um sie herum. Sie hielt die Briefe und den Orden umklammert und stieg die Verandastufen hinunter. Ohne zu merken, dass Wang Lee und Charlie sie beobachteten, überquerte sie den Hof und ging zur Pferdekoppel. Clipper schien ihre Not zu verstehen; schwerfällig kam er herüber und blieb geduldig stehen, als sie auf seinen Rücken kletterte. Ohne Sattel, ohne Decke und ohne Zaumzeug ritt sie in die Ebene hinaus.
    Charlie stand wie erstarrt da, als Ellie über den Hof taumelte. Die volle Wucht der Neuigkeiten, die der Priester überbracht hatte, lähmte ihn und hatte ihm die Sprache verschlagen; sie zertrümmerte das Bild einer beinahe an Gleichgültigkeit grenzenden Hinnahme, das er erzeugt hatte, als Aurelia ihm das erste Mal von Joes Tod berichtet hatte. Denn er hatte ihr nicht geglaubt. Hatte nicht glauben können, dass sein Bruder gestorben war, bevor sie Gelegenheit gehabt hatten, wieder ins Reine zu kommen. Doch hier war der schreckliche Beweis – und es hatte ihn hart getroffen, viel härter, als er es sich je hatte vorstellen können.
    Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Joe war stets ein Teil seiner selbst gewesen. Sie hatten miteinander gestritten und gespielt und gemeinsam um die Anerkennung ihrer Eltern gewetteifert. Sie waren durch das Land gewandert, hatten eine Decke und eine Gefängniszelle geteilt. Sie hatten zusammen geschwelgt und gehungert, sie waren durch die Ebenen geritten und hatten Stürme und Unwetter überlebt. Das konnte nicht das Ende sein. Und doch, das war es. Das Ende.
    »Kann ich irgendetwas tun?«, murmelte der Priester.
    Charlie schüttelte den Kopf. Tränen sickerten zwischen seinen Fingern hervor.
    »Wir könnten zusammen beten«, sagte der Priester hoffnungsvoll. »Sie würden sich wundern, wie gut das in solchen

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