Anemonen im Wind - Roman
Meilen vor sich. Fast konnte sie Ellie im Hitzedunst vor sich sehen, ein kleines Mädchen in einem zu großen Overall, der über die Spitzen der Stiefel fiel, mit einem verbeulten Buschhut auf dem struppigen Haar, ein kleines Mädchen, das blinzelnd in die Sonne spähte und sich fragte, ob es je an sein Ziel gelangen würde.
Claire zündete sich eine Zigarette an und legte den Ellenbogen auf die Fensterkante. Musik der Beach Boys dröhnte durch das Rauschen des Radios. Hier draußen gibt’s nicht viel zu surfen, dachte sie sarkastisch. Sogar der Wind war heiß; die Sonne versengte ihr die Haut, und ihr verschwitztes Hemd klebte an der ledernen Sitzlehne. Schließlich hielt Claire amStraßenrand an. Es war Zeit, etwas zu trinken und sich die Beine zu vertreten.
Als der Motor verstummt war, rückte die Stille heran. Das zischelnde Raunen von Myriaden Insekten unterstrich diese Stille noch, und als Claire aus dem Wagen stieg, prallte ihr die Großartigkeit des Outback mit voller Wucht entgegen. Es gab keine Häuser, keine Scheunen, nicht einmal Zaunpfähle oder einen Telegrafenmasten. Das Geräusch ihrer Sandalen im knirschenden Sand wirkte laut, und das Klopfen des abkühlenden Motors klang fast wie eine Uhr beim Countdown.
Claire fröstelte es trotz der Gluthitze des Windes. In ein paar Stunden würden die ersten der vierzigtausend Hektar von Warratah in Sicht kommen. In weniger als einem Tag würde sie mit ihrer Suche nach der Wahrheit beginnen – und in plötzlich aufblitzender Einsicht erkannte sie, dass diese Suche am Ende alles zerstören konnte, was sie je gekannt hatte.
Aurelia rückte ihr Monokel zurecht und bemühte sich mit ungeduldigem Schnauben, den betagten Herd zum Leben zu erwecken. Das alte Ding machte wieder Zicken, und in der Küche war es eiskalt. Das ist das Problem mit dem Alter, dachte sie. Missgelaunt warf sie den Schürhaken in die Ecke und raffte eine unansehnliche alte Jacke an sich. In achtzig Jahre alte Knochen konnte die feuchte Kälte leichter eindringen, und Dinge wie ein widerspenstiger Herd erinnerten sie nur daran, wie viele Jahre vergangen waren und wie rasch sie sich der Gebrechlichkeit näherte.
Mit scheelem Blick sah sie sich in der Küche um. Genau wie in Ellies neuerem Farmhaus erstreckte sie sich über die Rückseite des Hauses, an der Nordseite, damit es im Sommer kühl war. Seit Jahren war hier nicht mehr viel getan worden. Die Borde an der Wand bogen sich unter der Last unzähliger Gläser und Büchsen. Töpfe und Pfannen hingen an den Haken im geschwärztenBalken über dem Herd, Fliegenpapier schlängelte sich dunkel von der Decke herab, und Stühle und Tisch waren übersät von alten Zeitungen, Landwirtschaftskatalogen und den Überresten ihrer letzten Mahlzeit.
Aurelia schob einen Stiefel von einem Stuhl und setzte sich. Für jeden anderen wäre dies ein chaotisches Durcheinander gewesen, aber sie wusste immer, wo alles war, und erlaubte den schwarzen Hausmädchen niemals, hier aufzuräumen. Es war der einzige Raum im Haus, in dem sie sich wohler fühlte, wenn er unaufgeräumt war, denn irgendwie dämpfte dies die Stimmen der Vergangenheit und verlieh allem einen Hauch des Lebens, wie es einmal gewesen war. »Jessie!«, rief sie. »Wo steckst du?«
Sie hörte das weiche Tappen nackter Füße in der Diele, und dann spähte ein dunkles Gesicht zur Küchentür herein. »Mich rufen, Missus?«
Aurelia musterte Jacky Jacks Enkelin und musste lächeln. Das Mädchen war etwa sechzehn und noch nicht dick geworden wie ihre Mutter. Es hatte eine gewisse Eleganz, wie Jessie sich lautlos durch das Haus bewegte, und die Haltung ihres Kinns war nicht ohne Stolz. Wenn es jedoch ums Arbeiten ging, war Jessie nicht anders als der Rest ihres Stammes. »Ich dachte, ich hätte dich gebeten, heute Morgen Feuer im Herd zu machen?«
»Ich Hühner füttern, Missus. Mach später.«
»Du machst es jetzt gleich!«, befahl Aurelia unnachsichtig. »Und wenn du damit fertig bist, kannst du mit der Wäsche anfangen.« Aurelia entging der gesenkte Blick nicht und auch nicht die Strohhalme im Gewirr der ockerfarbenen Locken. Jessie hatte es wieder mit dem jungen Jackaroo, dem Hilfsknecht, getrieben; Aurelia wusste die Zeichen zu deuten und hoffte nur, dass das Mädchen nicht schwanger wurde. Es gab so schon zu viele Kinder in den Hütten der Aborigines. Ein paar von ihnen hatten eine zweifelhaft helle Hautfarbe, obwohl sie das Fraternisieren mit Viehtreibern und Knechten verboten hatte. Aber
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