Anemonen im Wind - Roman
Greifbares, auf das ich den Finger legen könnte. Vielleicht wird diese Familienkonferenz die Sache klarer machen. Lass mir ein bisschen Zeit, Leanne. Bitte!«
Leanne nickte, ehe sie sich abwandte. »Ich glaube, du machst ein Drama aus Nichtigkeiten. Was immer es ist – so schlimm kann’s ja nicht sein.«
Claire sah ihr nach und hörte, wie die Fliegentür zuschlug. »Das hoffe ich auch, Lee«, sagte sie leise. »Aber wenn du dich irrst?«
Ellie hatte im Dunkeln wach gelegen, und immer wieder war ihr durch den Kopf gegangen, was sie ihrer Tochter zu sagen hatte, wenn sie nach Hause käme. Sie wusste, dass Claire bei Lee drüben auf Jarrah war; sie hatte am Abend dort angerufen, und einer der Männer hatte es ihr gesagt. Obwohl sie dem Mädchen nachfühlen konnte, dass es die Heimkehr hinauszögerte,wünschte sie doch, Claire wäre geradewegs hergekommen. Je eher das Warten vorbei wäre, desto besser. Es war wie beim russischen Roulette.
Die ersten Sonnenstrahlen drangen kaum über den Horizont, als Ellie ihr Lieblingspferd sattelte und die Hunde aus dem Zwinger ließ. Dann ritt sie über die Wiesen der aufgehenden Sonne entgegen. Tau funkelte auf dem Gras, und die Vögel begannen ihr morgendliches Gezeter. Die Hunde, entzückt über ihre Freiheit, rannten vor ihr her, die Schwänze erhoben, die Ohren aufgestellt, und stöberten Kaninchen und kleines Viehzeug auf. Ihr Fell schimmerte bläulich im Licht der Morgendämmerung.
Ellie versuchte sich zu entspannen, aber Gedanken und Erinnerungen ließen es nicht zu. Nach zwei Stunden kehrte sie wieder nach Hause zurück. Sie war auf der Koppel und rieb ihr Pferd ab, als der uralte Allradwagen donnernd auf den Hof gefahren kam und in einer Staubwolke kreischend bremste. Lächelnd ging sie dem Wagen entgegen. Es gab nur einen Menschen, der so fuhr.
»Du kannst einer alten Frau ruhig sagen, sie soll sich um ihren eigenen Kram kümmern«, grunzte Aurelia. Mühsam kletterte sie aus dem Geländewagen und stellte die robusten Schuhe in den Staub. »Aber ich dachte mir, du kannst eine kleine Stütze gebrauchen.« Sie zog ihre alte Jacke glatt und rückte das Monokel zurecht. Ihre Augen funkelten trotzig.
»Immer«, sagte Ellie. »Aber …«
Aurelia kramte ihre Tasche aus dem Wagen und klemmte sie unter den Arm. »Kein Aber, Ellie«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Ich habe die Sache angezettelt. Jetzt müssen wir zusammenstehen.«
Ellie nahm Aurelias Arm, um ihr die Stufen zur Veranda hinaufzuhelfen, und wurde mit ungeduldigem Grunzen beiseite geschoben. Aurelia mochte achtzig sein, aber sie war ein zäheralter Vogel, und ihre bloße Gegenwart verlieh Ellie Kraft für das, was vor ihr lag.
Claire stieß das Tor auf. Der Lattenzaun war kürzlich frisch gestrichen worden, und das Gras hatte man so gemäht, dass ein Pfad über den kleinen Friedhof führte, der abseits des Hofes am Rande der Hauskoppel lag. Leuchtend rote Flaschenbürsten wetteiferten mit dem cremigen Leuchten der Lorbeerblüte, dem Weiß der Warratah und dem Gelb der Banksien in der Hecke, die den Friedhof umsäumte. Die roten und grünen Blüten der zarten Kängurupfote tanzten im hohen Gras, wo die rosaroten Köpfchen der Paraquilegia und gelbe Gänseblümchen in der Sonne leuchteten. An einem Jacarandabaum tropften purpurne Blüten aus dem farnartigen Laub, und der goldene Regen der Akazie spendete duftenden Schatten für die verwitterte Holzbank in einer Ecke.
Claire blieb einen Augenblick stehen und sog die Atmosphäre in sich auf. Sie hörte die gedämpften Geräusche des Lebens, das auf Jarrah seinen Gang ging, und den seelenvollen Schrei einer Krähe, die aus einem Baumwipfel aufflatterte und davonflog. Der geisterhafte Ruf eines Glockenvogels erhob sich über das Rasseln der Insekten, und ein Kookaburra gluckste, als habe er ein Geheimnis, das er niemandem anvertrauen würde.
Langsam spazierte sie zwischen den Gräbern umher. Ein oder zwei viktorianische Steinsarkophage waren von rostigen Eisengittern umgeben – ein postumes Zeichen des Wohlstands jener irischen Pioniere, die dieses Land vor zwei Jahrhunderten gerodet hatten und ihm seinen Namen gegeben hatten. Etliche Steine waren so stark verwittert, dass man die Inschriften unter dem Flechtenbewuchs nicht mehr entziffern konnte. Winzige Granitkreuze waren das einzige Andenken an tot geborene Babys und Kinder, die an Fieber oder Schlangenbiss gestorben waren, und Claire empfand Trauer bei dem Gedanken an dieMütter, die sie hier begraben
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