Anemonen im Wind - Roman
zu ihm gestanden hatte, dieses Pferd zu stehlen.«
Claire sah die Trauer in diesen dunklen Augen, und fastwünschte sie sich, sie könnte die Uhr zurückdrehen und die Vergangenheit da lassen, wo sie hingehörte. Aber jetzt waren die Schleusen geöffnet, und sie war begierig, mehr darüber zu hören, auch wenn sie zugleich Angst vor den Folgen hatte.
Ellie erzählte mit leiser Stimme weiter. Der Abend senkte sich herab, und Stille legte sich über Warratah.
»Die langen, einsamen Stunden im Sattel und auf den Wallaby-Pfaden hatten das Band zwischen den Zwillingen noch gestärkt, und Charlie merkte, wie viel Joe ihm bedeutete. Aber es lag nicht in Charlies Natur, einen Fehler einzugestehen, und auch nicht, umzukehren und um Verzeihung zu bitten.« Sie senkte den Blick und nagte an der Unterlippe. »Das Leben damals war härter als heute, und die beiden Jungen hatten schon früh gelernt, dass nur der Starke überlebt. Charlie hatte das Gefühl, dass er und Satan aus gleichem Holz geschnitzt waren: Sie waren freiheitsdurstig und nur dann glücklich, wenn sie draußen in der endlos leeren Weite sein konnten, wo ihnen nur Sonne und Wind Gesellschaft leisteten. Wenn er und Satan auf Warratah hätten bleiben müssen, wären ihre Lebensgeister bald verkümmert. Er glaubte, dass dieses Land für Männer wie ihn geschaffen sei. Männer, die keine Angst hatten, ein Risiko einzugehen. Männer, die dazu fähig waren, denen, die sie liebten, den Rücken zuzukehren und sich eine Zukunft unter ihresgleichen aufzubauen.«
Seufzend stand Ellie auf und trat an das Verandageländer. Sie schaute zu dem mattgelben Licht hinüber, das aus dem Fenster der Schlafbaracke fiel, und lehnte sich das Geländer. »Aber das Schicksal spielt uns Streiche«, fuhr sie schließlich fort. »Zwei Jahre später sollte Charlie eine sehr harte Lektion bevorstehen.«
Aurelia zog sich die Jacke fester um den Busen. Es wurde kalt – ein untrügliches Zeichen dafür, dass es irgendwann in der Nachtregnen würde. Aber es wäre eine Schande, die Stimmung jetzt dadurch zu verderben, dass sie ins Haus gehen wollte, noch dazu da dieser Teil der Geschichte fast zu Ende war. Sie sah Ellie an, und ihre Blicke trafen sich in wortloser Übereinkunft: Die Geschichte von Warratah noch einmal zu erzählen war schmerzhaft, aber es geschah besser hier draußen im Freien.
»Es war einen Monat vor dem Weihnachtsfest 1938«, begann sie. »Ellie war sechzehn. Die Dürre währte nun schon sechs Jahre. Ellie hatte von ihrer Mutter das übliche, grässliche weiße Chiffonkleidchen bekommen und es geradewegs dem Hausmädchen für eins ihrer Kinder geschenkt. Wir saßen in der Küche und diskutierten über Australiens Verpflichtungen gegenüber dem Commonwealth und über die Rolle, die unsere Männer würden spielen müssen, falls es zum Krieg kommen sollte.«
Aurelia schaute wieder zu Ellie hinüber und wusste, dass sie sich an bestimmte Passagen dieses Gesprächs nur allzu gut erinnerte. Sie spürte, wie es ihr heiß ins Gesicht stieg, und wandte sich ab. Claire brauchte über sie und Jack nichts zu wissen – noch nicht. »Ich betrachtete Ellie inzwischen als meine eigene Tochter«, fuhr sie hastig fort. »Sie war immer noch klein und viel zu dünn, aber das glich sie mit einer Persönlichkeit aus, die man nicht übersehen konnte. Sie hatte einen starken Willen und ein wildes Temperament.« Sie und Ellie wechselten einen Blick und lächelten bei der Erinnerung an die Streitereien, die sie in diesen schwierigen Jahren des Heranwachsens überstanden hatten.
»Zu meiner Überraschung blieb Joe nach der Enttäuschung über seinen Bruder bei uns. Er besaß ein natürliches Talent für den Umgang mit Pferden, das ich bewunderte. Er war schüchtern und sanftmütig, und sein Lächeln war herzerwärmend. Für einen Jungen vom Lande war er intelligent und erstaunlich belesen, und ich mochte ihn bald sehr gern. Seamus Maughan hingegen war ein Schurke«, sagte sie liebevoll. »Ein dunkelhaariger irischer Bengel mit lachenden blauen Augen und einem rastlosenHerzen, das ihn oft in alle möglichen Kalamitäten brachte. Ich war sehr für ihn eingenommen, und da er Mickeys Sohn und der Erbe von Jarrah war, hatte ich die Hoffnung, dass aus ihm und Ellie was werden könnte.«
Aurelia schwieg, als sie daran dachte, wie gern die drei jungen Leute einander gemocht hatten. »Meine drei Musketiere«, so hatte sie sie genannt. Wenn die Arbeit es erlaubte, waren sie immer zusammen. Zwischen Seamus
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