Angeklagt - Dr. Bruckner
sogar als Wiedergutmachung mit Ehren überhäuft. Nun trat genau das Gegenteil von dem ein, was er geträumt hatte!
Thomas Bruckner zog sich den weißen Kittel über, stürmte aus seinem Zimmer, lief den Flur hinunter und durchquerte den Garten. Ein feiner Sprühregen hatte eingesetzt und umgab die Lichter der Laternen mit einem Hof. Dr. Bruckner fröstelte. Er schlug den Kragen seines weißen Mantels hoch und ärgerte sich, daß er nicht eine wärmere Jacke übergezogen hatte. Die Apriltage waren noch trügerisch. Sie gaukelten zwar Frühling vor, hatten sich aber noch nicht vom Winter getrennt.
Kurz vor der Chirurgischen Klinik blieb Dr. Bruckner einen Augenblick lang stehen und schaute hinauf. Die Fenster der Flure waren schwach erleuchtet. Sie zogen sich wie Lichtbänder parallel über die ganze Mauer. Ein einziges Fenster war hell erleuchtet. Das war der Raum, in dem der vierte Patient, den er in letzter Zeit operiert hatte, um sein Leben rang.
Dr. Bruckner mußte sich einen Ruck geben, um sich von diesem Anblick loszureißen. Er betrat das Gebäude der Klinik, stürmte die Treppen hinauf in den dritten Stock, öffnete die Tür der Station und raste den Flur entlang. Vor dem Zimmer, in dem der Kranke lag, blieb er einen Augenblick stehen. Er wollte die Hände falten und ein Stoßgebet zum Himmel schicken …
Da wurde die Tür von innen aufgestoßen. Heidmann stand auf der Schwelle. Er faßte Dr. Bruckner am Arm und zog ihn in das Zimmer. Schweigend deutete er auf den Kranken.
Barbara Pellenz stand auf der anderen Seite des Bettes. Ihr weißer Kittel war grünlich verfärbt. Sie hielt eine Schale in der Hand, die mit Erbrochenem angefüllt war.
»Ich weiß nicht, was los war. Er fing plötzlich an zu brechen. Es schien nicht mehr aufhören zu wollen. Man hat das Gefühl, sein Magen läuft über. Und sein Puls ist …« Sie vollendete den Satz nicht.
Dr. Bruckner warf einen Blick auf den Kranken, der mit halb geschlossenen Augen im Bett lag und hechelnd atmete. Sein Gesicht sah grau aus. Feine Schweißtropfen standen auf der Stirn. Er schien bewußtlos zu sein, jedenfalls regte er sich nicht, als Bruckner nach seinem Puls griff.
Besorgt beobachtete die Studentin Dr. Bruckners Gesicht, das immer ernster wurde. »Der Puls jagt nur so. Er ist kaum zu palpieren.«
Dr. Bruckner nahm die Schale in die Hand. »Eine akute Atonie!« sagte er und erhob sich von der Bettkante. »Bringen Sie mir einen dünnen Schlauch – eine Nasensonde!«
»Habe ich schon besorgt.« Assistent Heidmann hielt ein in ein Leinentuch gehülltes Paket hoch. Er zog die Schleife auseinander, die es zusammenhielt, und öffnete es. Ein bleistiftdünner Schlauch lag zusammengerollt in dem Paket.
»Geben Sie her!« Bruckner nahm den Schlauch, führte ihn durch die Nase des Patienten ein, schob ihn tiefer und tiefer und tiefer …
»Jetzt dürfte er im Magen sein. Eine Spritze?«
Dr Heidmann reichte ihm eine kleine, zwei Kubikzentimeter fassende Glasspritze.
Der Oberarzt schüttelte den Kopf. »Die ist viel zu klein.« Er setzte sie trotzdem an das nach außen herausragende Ende des Schlauches und zog daran. »Viel zu klein! Wir brauchen eine große Spritze – so groß!« Er deutete mit zwei Händen die Größe der Spritze an, die er brauchte.
»Da hinten liegt eine.« Dr. Heidmann ging zum Fensterbrett. »Das ist die Spritze, die ich beim Pfleger Buhmann gesehen habe.«
»Die Spritze, die er angeblich zum Ohrausspritzen nehmen wollte. Ich verstehe nur nicht, was die dünne Kanüle hier vorn soll …« Dr. Bruckner zog eine Nadel von der Spritze, setzte den Konus auf den Gummischlauch und begann, den Stempel hochzuziehen.
Der Glaszylinder füllte sich bald mit einer grünen Flüssigkeit.
»Einen Eimer!« rief Bruckner und schaute Heidmann an. »Holen Sie rasch einen Eimer!«
Heidmann verließ das Zimmer. Bruckner entleerte die Spritze im Waschbecken, setzte sie wieder an und zog. Erneut füllte sich der Glaszylinder.
Johann Heidmann kam zurück. »Ich habe nur diesen Putzeimer gefunden.«
»Der reicht!« Bruckner spritzte den Inhalt der Spritze in den Eimer, setzte den Konus wieder an den Schlauch, zog am Stempel, spritzte aus – wiederholte das Manöver immer und immer wieder.
Staunend sah Barbara Pellenz zu, wie sich der Eimer immer mehr füllte. »Das ist ja furchtbar. Das hat er alles in seinem Magen gehabt?«
»Ja; bei einer Atonie befinden sich oft mehrere Liter Flüssigkeit im Magen. Die Magenwände sind vollkommen
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