Angel Eyes. Im Bann der Dunkelheit (German Edition)
sein Gesicht zu mir, aber kurz bevor unsere Lippen sich berühren, halte ich inne.
Denn als mir aufgeht, was ich da tue, steigen Schuldgefühle in mir auf und beschweren mein Herz. Ich möchte mich in ihm verlieren – um das Geschehene zu vergessen. Und nicht etwa, weil ich Gabe will, sondern weil ich noch immer Luc will. Die blutende Leere in meiner Brust bringt mich um, der Schmerz zerreißt mich schier. Ich will, dass dieser Schmerz vergeht. Gabe kann das bewirken. Doch es wäre weder fair noch richtig.
Als es an der Tür klopft, fahren wir beide zusammen. Ich löse mich von Gabe und streiche meine Haare glatt. Gabe steht auf, geht zum Fenster und schaut hinaus in die Dämmerung.
«Frannie?», ruft mein Vater durch die Tür. «Kann ich reinkommen?»
Ich werde rot und schaue zu Gabe. «Ähm … Später vielleicht, Dad.»
Gabe wendet sich vom Fenster ab. «Bitte ihn rein, Frannie.»
«Nein!», flüstere ich.
Er sieht mich streng an. «Du bittest ihn jetzt rein!»
«Ähm … Einen Moment, bitte … Warte», stottere ich und blicke Gabe fragend an. Dann öffne ich die Tür.
Mit zornig gerunzelter Stirn steht mein Vater vor mir. Er sieht zuerst mich, dann Gabe an.
Ich rechne schon damit, dass er sauer wird und wissen will, wie Gabe hier hereingekommen ist, aber er fragt nur:
«Was ist hier los?»
Mein Mund antwortet, bevor ich nachgedacht habe. «Nichts, Dad. Wir haben nur …»
«Es passiert wieder», sagt Gabe leise.
Ich halte abrupt inne.
Mein Vater wird ganz blass. «Matt …?»
In Gabes Augen steht der Schmerz, als er meinen Vater ansieht. «Er ist gefallen, Daniel.»
In diesem Moment geht mir auf, dass mein Vater nicht mit mir gesprochen hat. Sein Blick ist auf Gabe gerichtet. Und nun erkenne ich auch, dass das, was ich für Zorn gehalten habe, in Wirklichkeit Sorge ist.
Ich komme nicht mehr mit. Warum erzählt Gabe meinem Vater von Matt? Und seit wann duzt Gabe meinen Vater und nennt ihn Daniel? Wieso kennen die beiden sich so gut? Gabe ist meinem Vater nur einmal begegnet, vor wenigen Monaten. Mir scheint etwas Wichtiges entgangen zu sein.
Mein Vater stützt sich an den Türrahmen. Gabe legt ihm eine Hand auf die Schulter, zieht ihn ins Zimmer und schließt die Tür. «Sag es ihr. Sie muss es wissen.»
Sie sehen einander voller Sorge an, dann blickt mein Vater mit ernster Miene zu mir herüber. «Ich muss dir etwas zeigen», sagt er und macht sich daran, sein blaues Hemd aufzuknöpfen. Er zieht es aus. Darunter trägt er ein Unterhemd mit V-Ausschnitt.
Schockiert wende ich mich ab, als er Anstalten macht, es sich über den Kopf zu ziehen. «Dad. Was machst du da?» Mein Vater trägt immer wenigstens ein T-Shirt. Selbst am Strand.
«Du musst das sehen, Frannie, damit du es verstehst.»
Ich drehe mich wieder um und hebe den Blick. Er hat mir den Rücken zugewandt, und ich kann ein Keuchen nicht unterdrücken, als mein Blick darauf fällt. Ich muss mich beherrschen, um nicht die Hand zu heben und die rauen weißen Narben auf seinen Schulterblättern zu berühren.
«Oh mein Gott! Was ist passiert?»
Er schaut über die Schulter, also folge ich seinem Blick. Gabe schwebt in der Nähe des Fensters. Sein Hemd ist fort, aus seinem Rücken sind zwei riesige weiße Flügel gesprossen. Er hat mir noch nie seine Flügel gezeigt, und jetzt weiß ich auch, warum. Sie sind unglaublich. Sie sind gefiedert, aber ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe – und auch ganz anders als die dämlichen Bilder, die man in Kirchen und so sieht. Die Federn scheinen aus reiner Energie zu bestehen – aus weißem Licht.
Wie in Trance gehe ich zu Gabe und hebe die Hand, um sie am Rand zu berühren, doch er packt mein Handgelenk und hält es fest. Ich sehe den Kampf in seinen Augen, aber am Ende hebt er meine Hand an den Mund und küsst sie. Dann lässt er mich los und nickt. Als meine Finger über die Federn streichen, fährt Energie knisternd über meine Haut. Augenblicklich durchflutet mich all sein Wissen, alles, was er je gesehen hat, und alles um mich herum wird schwarz.
Als ich aufwache, liege ich auf dem Bett. Gabe sitzt neben mir und hält meine Hand. Er hat sein altes blaues T-Shirt wieder an. Mein Vater wandert im Zimmer auf und ab. Auch er trägt wieder sein Hemd. Ich schließe die Augen und versuche mich zu erinnern, was passiert ist, unmittelbar bevor ich ohnmächtig wurde. Mein Vater … Narben. Gabe … Flügel.
Ich schaue meinen Vater erstaunt an. «Nein!»
Er sieht mich traurig an.
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