Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin (German Edition)
Rückgratlosigkeit vor, sie opfere immer wieder »die Strategie der Taktik«.
Was also ist Merkels Mitte, oder gibt es sie gar nicht? Jener Punkt, bei dem sie immer ist, weil er unter keinen Umständen zur Disposition steht? Tatsächlich ist es zunächst deutlich leichter, die Frage zu beantworten, wenn sie andersherum gestellt wird: Wo ist Merkels Mitte nicht ? Was steht zur Disposition?
Drei Felder sind zu nennen, und nicht gerade kleine: Reformen, Europa, Konservative.
Erstens , marktliberale Reformen. Angela Merkel hatte ihren Flirt mit Reformen für Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem etc. Er war zu Ende, als sie 2005 mit Ach und Krach an die Regierung kam. Auf das rauschhafte Hochamt des Leipziger CDU -Parteitags 2003 mit Bierdeckel-Steuererklärung und Kopfpauschalen-Krankenversicherung folgte bei der Bundestagswahl zwei Jahre später die Ernüchterung – und die Umkehr. Teils erzwungen vom Koalitionspartner SPD , mit dem marktliberale Reformen naturgemäß nicht zu machen waren. Teils aber auch freiwillig hergeschenkt von einer Kanzlerin, die am Wahlabend für sich beschloss, »dass die CDU nie mehr die bessere FDP « sein soll. Guido Westerwelle, damals liberaler Oppositionsführer, reibt es ihr bereits wenige Monate nach Amtsantritt unter die Nase. Anfang 2006 liest er bei einer Bundestagsdebatte aus dem gemeinsamen Wahlkampf-Papier von ihm, Stoiber und Merkel aus dem September des vorhergegangenen Wahljahres vor und ätzt: »Das waren Ihre Worte, bis Sie Kanzlerin wurden. Halten Sie sich noch an das, was sie vor sechs Monaten für richtig gehalten haben?« Die FDP -Abgeordneten jubeln. Merkel lächelt ein vollständig unamüsiertes Lächeln, schmal und ohne Lippen.
Merkel-Freunde in der CDU sagen dagegen, dass es leicht (und unausweichlich) gewesen sei, »Leipzig« weitgehend wieder auszuradieren. »Leipzig war in der CDU nicht tief verankert, sondern ein Putsch von oben«, sagt heute einer der wenigen wirklichen Aktivposten im Kabinett. In dieser Lesart war der Leipziger Reform-Galopp ein Irrweg und hat sich Angela Merkel rechtzeitig eines Besseren besonnen. Schon als Friedrich Merz nach seiner umjubelten Rede auf dem Parteitag zurück auf seinen Platz auf dem Podium kam, beugte sich Sitznachbar Wolfgang Schäuble zu ihm herüber und wies ihn zurecht: Er habe jetzt »Erwartungen geweckt, die er nicht erfüllen könne«. Nicht in und mit dieser CDU .
Tatsächlich macht die Partei den Schwenk weg von der reinen (Wirtschafts-)Lehre bereitwillig mit, als Merkel beim ersten regulären Parteitag nach der Wahl im Herbst 2006 auf »sowohl als auch« umstellt und sowohl eine Hartz-IV-Verschärfung als auch eine Hartz-IV-Abmilderung ins Programm aufnehmen lässt. Letztere wird vom starken Arbeitnehmerflügel betrieben, den damals der NRW -Ministerpräsident und »Arbeiterführer« Jürgen Rüttgers repräsentiert. Die Botschaft ist klar, und sie hat sich bis heute nicht ernsthaft mehr verändert: Mehr Reformen mutet die CDU unter Angela Merkel den Deutschen nur noch zu, wenn sie zugleich mehr Sicherheit mitliefern kann. Hinzu kommt die inzwischen feste Überzeugung, dass die wichtigste Wirtschaftsreform von ihrem Vorgänger ohnehin schon bewerkstelligt wurde. Nämlich im Hochlohnland Deutschland de facto einen Niedriglohnsektor zu schaffen, der den Jobmarkt für den Einstieg von Millionen weniger qualifizierten Arbeitslosen öffnet.
Fazit: »Reformen« sind für Merkel nicht mehr Maßstab beim Verfolgen eines freiheitlichen Gesellschaftsentwurfes, in dem es auf den Einzelnen mehr ankommt als auf die Gemeinschaft. Stattdessen sind sie gegebenenfalls unausweichlich, um eine offenkundige Fehlfunktion im Wirtschaftsablauf mit Augenmaß zu reparieren. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Es stellt freiheitliche »Reformen« als solche zur Disposition, macht sie wie so vieles andere zur Opportunitätsfrage. Damit ist Merkel der SPD , aber auch den meisten Wirtschaftsverbänden (die eigentlich überhaupt keine großen Reformen mehr fordern) in jene Defensive gefolgt, in der jedwede Veränderung vor allem eine gefährliche Zumutung darstellt – mit der man den Deutschen am besten so selten wie möglich kommt. Hans-Dietrich Genscher, wahrlich kein Ideologe oder Hardliner, nennt das »softi-sozialistische Denkungsarten«. Für ihn ist das schwarz-gelbe »Projekt« inzwischen tot und offen nur die Frage, ob es für Angela Merkel jemals lebendig war.
Zweitens , »mehr Europa«. Angela Merkel ist zu Europa über
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