Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin (German Edition)
den Regierungs-Alltag und die Krise gekommen, nicht übers Herz. Das ist kein Vorwurf, weil sie ja bis 1989 in der DDR leben musste. Es fehlen ihr zwei ganz entscheidende Momente polit-psychologischer Aufladung, die all jenen gemeinsam sind, die in den großen Parteien die allgemeinen Europa-Überzeugungen über Jahrzehnte prägten. Nämlich zum einen, dass Europa eine Sache von »Krieg und Frieden« sei, also Deutschland seiner Vergangenheit wegen doppelt und dreifach Bringschuld für das Gelingen habe. Und dass die europäische Einigung zum anderen wie ein Fahrrad sei – wenn sie zum Stillstand kommt, fällt sie um. Deshalb sind Wolfgang Schäuble und Angela Merkel so fundamental unterschiedliche Pro-Europäer. Der Herzens-Europäer Schäuble wendet seine ganze Intelligenz und Kraft darauf, aus einer Europa-Krise das Momentum für Vertiefung zu holen, für mehr Europa im Sinne der 80er und 90er Jahre. Die Kopf-Europäerin Angela Merkel verwendet ihre ganze Intelligenz und Kraft darauf, die Krise zu beheben – was vielleicht zu größerer Vertiefung führt, vielleicht aber auch nicht. Die Herzens-Europäer glauben fest, dass »mehr Europa« auch dann zum Wohle der Deutschen ist, wenn es gegen deren erklärten Willen durchgesetzt werden muss. Angela Merkel glaubt das nicht, zumindest nicht bedingungslos. Sie verweist gern auf die Grenzen, die das Bundesverfassungsgericht ihr tatsächlich gezogen hat. Aber zugleich ist sie froh, dass Karlsruhe ihr so erspart, den Wählern zu erklären, wo sie selbst ihre Grenzen gezogen hat. Es ist nicht so, dass die Europäische Union oder der Euro für Angela Merkel zur Verfügungsmasse würden, weil der politische Preis ihrer Bewahrung stetig steigt. Sie weiß sehr wohl, welches Erbe in ihren Händen liegt. Aber ebenso wahr ist: Einfach nur immer mehr Europa ist kein Überzeugungs-Kern der Kanzlerin. Ihr Satz »Scheitert der Euro, scheitert Europa« ist kein Glaubensbekenntnis, sondern eine mathematische Gleichung, oder besser: eine Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Mitte 2011 wurde Alt-Kanzler Helmut Kohl, Ehrenbürger Europas, im Spiegel mit dem schnell dementierten Satz zitiert: »Die macht mir mein Europa kaputt.« Worauf Merkel insgeheim (aber zu Recht) antworten würde: »Dein Europa, lieber Helmut, gibt es eh’ nicht mehr.« Anfang der 90er Jahre brauchte es ein, zwei Milliarden Mark, notfalls aus deutschen Kassen, um einen kippeligen EU-Etatgipfel zu retten. Heute geht es um das Hundertfache. Anfang der 90er Jahre stritt man in Deutschland mit Vorliebe um die Höhe des deutschen Netto-Beitrags, um einige Milliarden pro Jahr mehr oder weniger. Heute geht es darum, ob Deutschland bald für alle Staatsschulden der Euro-Zone haftet, das Mehr-Tausendfache. Ob das für Helmut Kohl ein Unterschied wäre, der als Junge in Ludwigshafen vom Bürgersteig heruntermusste, wenn französische Besatzer entgegenkamen, es mag offen bleiben. Für Angela Merkel ist es einer.
Der Bundestag hat seit 2010 erst ein Rettungspaket für Griechenland beschlossen, eines für Irland, eines für Portugal und noch ein zweites für Griechenland. Der Bundestag hat erst den Rettungsfonds EFSF beschlossen, dann seine Ausweitung und dann seine Überführung in einen dauerhaften, vergrößerten Schutzschirm namens ESM. Ferner hat der Bundestag in einer Sondersitzung ein Rettungspaket für spanische Banken beschlossen und Ende 2012 das zweite Griechenland-Paket zeitlich gestreckt und die Kosten für Athen massiv gesenkt – nicht ohne bereits von einem dritten Paket und einem weiteren Schuldenschnitt ganz offiziell zu reden.
Was folgt daraus? Deutschland dürfe von Europa nicht überfordert werden, sagt die Kanzlerin. Deutschlands Kraft sei nicht unerschöpflich. Die Haftungsrisiken gehen inzwischen weit in den dreistelligen Milliardenbereich, und nicht nur Kritiker sagen, dass der Steuerzahler in nicht allzu weiter Zukunft massiv Geld verlieren wird. Angela Merkel setzt darauf, dass es vor der Bundestagswahl nicht dazu kommt. Aber wenn es soweit ist, wird der eigentliche Unterschied zwischen den Herzens- oder Glaubenseuropäern und Angela Merkel darin bestehen, dass Erstere sich noch nie, Angela Merkel aber schon häufig mit dieser Möglichkeit beschäftigt haben: in einem konkreten Fall zwischen »mehr Europa« und dem Wohl Deutschlands wählen zu müssen, weil sie nicht mehr ein und dieselbe Sache sind. In diesem Sinne gehören für Angela Merkel Europa und der Euro zwar zum harten Überzeugungskern –
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