Angela Merkel – Die Zauder-Künstlerin (German Edition)
Antrittsrede im Bundestag mehr Pathos-Momente produziert als Angela Merkel in allen Kanzler-Jahren zusammen. Bei ihr ist der Unterschied zwischen frei gehaltenen und abgelesenen Reden deutlich kleiner als bei vielen anderen Politikern.
Aber sie hat auch eine andere Auffassung von ihrer Rolle. Die heißt: nüchtern, akribisch und viel arbeiten, besser: werken. Das ist Kanzlersein, und das verträgt sich in ihren Augen nicht mit Pathos, mit Blut, Schweiß und Tränen. Mehr noch: Die Sehnsucht nach der einen großen Rede, nach dem einen großen Schlag, findet Angela Merkel nicht nur weltfremd und naiv, sondern »politisch regelrecht gefährlich«, wie sie einmal in einem längeren Gespräch über das Thema sagte. Warum? Weil es falsche Hoffnungen wecke, die zu enttäuschen es den Regierenden mit den Regierten noch schwieriger mache, als es ohnehin schon sei. Lieber das kleine Karo, das aber verlässlich – so denkt Merkel wirklich. Solche Klein-Lösungen genügen pathetischen Form-Ansprüchen nur selten. Im Gegenteil: Vorher Pathos macht hinterher das Vermarkten pragmatischer Beschlüsse noch schwieriger. Hinter dieser Überzeugung steckt bei Angela Merkel auch das, was sie an Politik in Wahrheit fasziniert, motiviert. Es ist nicht die eine Leidenschaft, das eine Thema. Was sie fesselt, sind die Verfahren, nicht die Festlegung. Der Prozess, nicht die Position. Ein frei gewähltes politisches Lebensthema hat sie also nicht, hat sie nie gehabt. Kurzum: Wer für den eigenen (Wunsch-)Eintrag ins Geschichtsbuch so viel absichtlich oder unabsichtlich ausschließt wie Angela Merkel – der muss warten, bis das Schicksal eingreift.
Wenn man um der erzählerischen Dramatik willen den Tag nennen wollte, an dem Angela Merkel den Deutschen zeigte, dass sie ihr Thema gefunden hat, ihren möglichen Eintrag ins Geschichtsbuch – es wäre der 14. November 2011, CDU -Parteitag in Leipzig. Die CDU -Chefin hält wie seit längerem üblich keine Partei-Rede, sondern eine Regierungs-Rede. Aber für die Partei, die gern mit Stolz auf die eigenen Vorväter blickt, lädt sie sie dieses Mal auch auf. Kommt von Adenauer über Erhard auf Kohl, zieht lange Linien und sagt schließlich: »Jede politische Generation hat ihre Herausforderung.« Ihre ist die Euro-Rettung. Die Bewahrung des zentralen Einigungs-Projektes der Europäer und zugleich den Beweis, dass die Europäer auch im 21. Jahrhundert in der Welt der ganz Großen mitspielen können. »Wir leben in einer Zeit epochaler Veränderungen«, sagt an diesem 14. November Merkel weiter. »Es ist Zeit für den Durchbruch zu einem neuen Europa.«
Und es wurde klar, das also möchte sie gern lesen: Angela Merkel, geboren 1954, drei Jahre vor den Römischen Verträgen, 35 Jahre zwangsweise Zaungast der europäischen Einigung; diese Angela Merkel hat Deutschland vollends nach Europa gebracht, weil Deutschland unter ihrer Führung Europa aus seiner bislang größten Krise gelotst hat. Sie hat Deutschland mit der größten innenpolitischen Reform ihrer achtjährigen Amtszeit, mit der 2009 im Grundgesetz verankerten »Schuldenbremse«, zum Modell für Europa gemacht. Und unter ihrer Führung entstand mit allen Risiken und Nebenwirkungen ein anderes Europa, eine echte europäische Innenpolitik, in der »griechische Sorgen niederländische Sorgen sind, in der spanische Sorgen auch deutsche Sorgen sind« (Merkel). Ein Epochenwechsel, aber auf der Strecke fühlte es sich zu keinem Moment an wie eine Revolution. Zuvorderst Angela Merkel hat dafür gesorgt, dass es Schritt um Schritt ging, immer erst unter maximalem Druck und nie unterlegt mit großen Entwürfen oder Visionen. Wenn man aber 2013, nach fünf Jahren Krise, zurückschaut auf die Europäische Union und die Euro-Zone zumal, dann hat sich an beiden so viel geändert wie sonst nur bei Revolutionen: Mit Rettungsfonds, Fiskalpakt und EZB -Politik ist das no-bail-out-Gebot der alten EU-Verträge abgelöst worden. Die Euro-Staaten sind offiziell weiterhin keine Transfer-Union und die Risiken national bezifferbar. Aber von der Strecke bis zu einer solchen umfassenden Schulden-Haftungsunion ist weit mehr als die Hälfte zurückgelegt. Deutschland ist in eine umstrittene, aber nicht bestrittene Führungsrolle hineingewachsen, wie sie noch nie ein Land in der EU innehatte.
Über jede einzelne, kleine Etappe auf dem Weg ist viel und heftig diskutiert worden. Über das große Ganze dieser in Summe epochalen Umwälzung freilich viel weniger. Das ist ganz
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