Angela Merkel - Ein Irrtum
dem Ausmaß der Naziverbrechen und des stalinistischen Terrors ungern gesehen, da er Einzigartiges infrage zu stellen scheint. Der Wahrheitsfindung dient das Vergleichsverbot natürlich nicht, dafür der nachträglichen Legitimation eines Terrorregimes.
Ein schönes Beispiel für die gestörte Wahrnehmung, die der Betroffenheitskult erzeugt, bietet ein Schlagabtausch zwischen Thilo Sarrazin und der Schriftstellerin Hatice Akyün auf dem Höhepunkt der Debatte um Sarrazins damals noch weithin unbekannte Thesen – um die es ja auch gar nicht ging, wie der folgende Dialog zeigt:
Sarrazin: »Eine Kritik ist entweder sachlich richtig oder falsch. Und wenn sie richtig ist, muss man sie auch äußern dürfen.«
Akyün: »Sie sollten bei jeder Kritik Rücksicht auf die Gefühle der Menschen nehmen. (…) Was mich irritiert, ist, dass Sie Menschen kategorisieren und zu Zahlen machen.«
Sarrazin: »Um zu wissen, wie hoch die Getreideernte im
letzten Jahr war, gucke ich (…) ins Statistische Jahrbuch und muss nicht über die Felder gehen und mit den Bauern reden.«
Akyün: »Wir reden über Menschen und nicht über Getreidefelder. « 21
Man möchte lachen und weinen zugleich. Das ist kein gescheiterter Dialog, weil der eine ein »nörgelnder Deutscher« und die andere eine sich solidarisch mitangegriffen fühlende Deutschtürkin wäre, sondern weil schlichte Faktenratio gegen »Gefühl« steht. In diesem Diskurs zweier Welten ist Verständigung nicht mehr möglich.
Nun, vielleicht ist die Suche nach dem »Menschen hinter der Rolle« ja mittlerweile das Einzige, was noch der Wahrheitsfindung dient, hat sich der Wähler doch längst daran gewöhnt, dass Wahlversprechen Schall und Rauch sind, es also keinen Sinn hat, nach dem Stand der Dinge zu fragen. Für den Wirtschaftsstandort Deutschland aber scheint mir das »nicht hilfreich« zu sein, diese Abwertung des Sacharguments, des Objektivierens, des Kalküls. Eine der größten Wirtschaftsmächte der Welt leistet sich eine weitgehend technik- und vernunftfeindliche Öffentlichkeit? Cool. Deutschland schafft sich ab? Wundern tät es einen nicht.
Fragt sich nur, warum eine wie Angela Merkel diesen Unsinn heutzutage mitmacht. Denn gerade deshalb fand ich sie einst so erfrischend: Die Physikerin mit naturwissenschaftlich grundierter Nüchternheit und trockenem Humor mied rhetorische Arabesken und anbiedernde Gefühlsbeteuerungen. Sie sprach klar und sachlich – weshalb aus ihrem Mund Worte wie »Wahrheit« und »Mut«, »Aufbruch«
und »Entschlossenheit« nicht ganz so blechern klangen.
Doch mittlerweile scheint auch sie, die zu Tina mutierte, zu meinen, man müsse »die Menschen da draußen« »abholen«, wo sie stehen, und sie »in die Mitte nehmen«, damit »menschliche Wärme« entsteht – oder wie das Blech sonst noch heißt, das so geredet wird. Von Angela Merkel wissen wir, dass sie in einer Kabinettssitzung einmal geweint hat. Ich finde, das reicht. Wenn in der Zeitung von »Frau Merkels neuer Wärme« geschwärmt wird, gehen bei mir alle Warnlichter an. 22
Bis zur Schicksalswahl 2005 sprach aus Angela Merkels Reden zur Renten-, Gesundheits- und Steuerproblematik Nüchternheit, sie orientierte sich an den Fakten und nicht an der vermuteten Gefühlslage der Nation. Mit ihrer Berufung von Paul Kirchhof in ihr »Kompetenzteam« zeigte sie ein letztes Mal, wie unabhängig sie sich fühlte. Doch der Ausgang der Wahl lehrte sie, wie abhängig auch sie in Wirklichkeit war: von einer Stimmungspolitik, die andere besser beherrschten als sie. Denn auch Stimmungen schlagen sich in Zahlen nieder.
Angela Merkel und ihr Professor wurden ein Opfer politischer Semantik. Das Stichwort, das den »Professor aus Heidelberg« erledigte, lautete »soziale Kälte«, ein Verdikt ausgerechnet des ausgeprägten Machtmenschen Gerhard Schröder, den es selten störte, wenn er sich in den Mitteln vergriff.
»Soziale Wärme« und »soziale Gerechtigkeit« gehören zu unseren wirkungsmächtigsten modernen Mythen. Alle
scheinen zu wissen, was das Adjektiv »sozial« bedeutet – auf jeden Fall etwas Gutes. Ganz zu schweigen von den beiden Substantiven: »Wärme« vermittelt, wenn es nicht gerade um den »Klimawandel« geht, Kuscheliges, weshalb Politiker schwierige Fälle auch gern in die »Mitte« nehmen. »Gerechtigkeit« wiederum wollen alle, eine Leerformel, die jeder nach Gutdünken füllt.
Auch das Wort »sozial« hat eine bezeichnende Karriere hinter sich. Noch im 19. Jahrhundert, im
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