Angela Merkel - Ein Irrtum
Meinungsbetrieb weiß das. Doch keine Geschichte, auch keine Vielzahl von Geschichten zeigt das ganze Bild. Denn dafür brauchen wir nun mal »objektive Tatsachen«, Zahlen und Vergleiche. Sie schaffen Distanz, ermöglichen den Überblick.
Den Propheten des Weltuntergangs gefällt das nicht, die ihre Vorhersagen am liebsten mit einem weinenden Kind drapieren. Das katastrophische Denken unserer Tage möchte die Distanz ausschalten. Das weinende Kind, das individuelle Schicksal erhebt sich über den Weg der Identifikation zum Menschheitsschicksal. Story bias nennt sich dieser Trick.
Identifikation ist das Schlüsselwort, nicht Mitgefühl oder gar Analyse. Das Publikum soll ja »betroffen« sein. Katastrophenberichterstattung führt uns deshalb ganz nah
heran. Wir erfahren, wie es den Menschen in der unter Schneemassen zusammenbrechenden Eissporthalle erging, sofern es Überlebende gegeben hat. Andernfalls wird ihr Sterben nachempfunden. Später, viel später darf auch über die Statik des Hallendachs geredet werden.
Der nächste Schritt heißt dann: »Das geht uns alle an.« Dieser Satz dreht die Identifikationsschraube noch ein wenig weiter, er soll mit dem Gedanken »es hätte auch mich treffen können« die Herzen und das Portemonnaie öffnen. Identifikation schafft Solidarität oder wenigstens Problembewusstsein, glauben die Spezialisten des Sozialen.
Mich erinnert das immer wieder an eine der schönsten Formeln für die Geschlechterdifferenz, erfunden, wenn ich mich recht erinnere, von einem Mann: Blaumann oder Rotwein.
Der Mann zieht den Blaumann an, wenn es ein Problem gibt, und versucht, es zu lösen. Frauen aber möchten ihr Problem behalten, es drehen und wenden und sich bei einem Glas Rotwein trösten lassen. Von der Toskanafraktion zur Rotweinkultur.
Dass persönliche Betroffenheit nötig ist, um Solidarität zu erzeugen, ist im Grunde ein Schritt zurück. Das freie Individuum verdankt sich dem Abschied vom allzu Engen, der Familie, der Nachbarschaft – kurz: von allzu viel Identifikation. Niemand kann sich mit allen und jedem identifizieren. Oft sind diejenigen nicht die Sympathischsten, die Hilfe am dringendsten benötigen. Dass sie diese bekommen, ist der große Vorzug eines Systems, das absurderweise als abstrakt und kalt gilt. Denn es überantwortet
niemanden an die überaus schwankenden subjektiven Gefühle seiner Mitmenschen, sondern, nach überprüfbaren Kriterien, an (meistens) verlässliche Institutionen. Die Menschen waren keineswegs besser dran, als sie die Rente noch nicht vom Staat bekamen, sondern auf das Erbarmen der Kinder und Kindeskinder angewiesen waren.
Verfahren und Institutionen brauchen Regeln und Zahlen. Auch soziale Wärme braucht Bilanzen.
Frauen möchten gern Probleme haben, Männer sie lösen, lautet das Vorurteil. Doch seit Sachlichkeit als »unmenschlich« gilt, haben auch viele gut sozialisierte Männer ihre Nüchternheit aufgegeben und zeigen Gefühl. Es gibt sie ja längst, die Feminisierung der Politik: Was sich gut verkaufen soll, hat »frauenaffin« zu sein, eines der hässlichsten Worte aus der Werbesprache. Dass damit womöglich eine Unterschätzung des geistigen Vermögens von Frauen einhergeht, steht auf einem anderen Blatt.
Der Story-Bias suggeriert, die Geschichte, die »betroffen« macht, stehe fürs Ganze. Sie entreißt dem Schicksal seine Beute, indem sie es hochrechnet. Ein Junge ertrinkt im Schwimmbad in Sebnitz, und alle haben dabei zugesehen, so lautete vor Jahren eine Geschichte, die vielen als völlig glaubwürdig erschien. Nicht ein bedauerlicher Unfall, sondern die Gesellschaft war schuld am Tod eines Kindes.
So war es nicht, wie sich herausstellte, aber so soll es sein, weil es zu trösten scheint angesichts des bloßen Schicksals, das die Frage nach dem »Warum?« nicht erlaubt. So funktioniert Wahrnehmung in einer skandalisierenden Öffentlichkeit.
Was soll mir, denkt der fühlende Mensch, die Polizeistatistik, die überdies nicht gerade einfach zu interpretieren ist, wenn ich doch weiß, gehört, gelesen habe, wie viel Gewalt es gibt? Was, sagt die niedersächsische Ministerin mit Migrationshintergrund, brauche ich Zahlen und Daten, wenn ich doch »meine Migranten« kenne? »Auch nur ein Toter ist schon einer zu viel« lautet der gebräuchliche Einwand, wenn es darum geht, Gewalt oder Krieg in Zahlen zu fassen. Mit anderen Worten: Man will es so genau gar nicht wissen.
Zahlen relativieren immer. Auch deshalb ist ein Vergleich zwischen
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