Angela Merkel - Ein Irrtum
Befreiung der Individuen aus den Fesseln sozialer Abhängigkeiten.
Der moralisierende Diskurs verdammt das als »kalten« und egoistischen Individualismus. Warum eigentlich? Nichts dürfte lähmender sein als das paternalistische Prinzip, wonach Familie und Clan alles, der Einzelne nichts ist. Nur wer sich individuell eine Leistung zurechnen und von ihr profitieren kann, ist bereit, sie auf sich zu nehmen – und den Erfolg zu teilen, individuell, privat, per Spende. Und natürlich als Steuerzahler. Bereits das ist gelebte Solidarität.
Solidarität ist auch im Westen mit historischer Erfahrung gesättigt: die der gelungenen Integration von Millionen von Menschen seit 1945, seien es Flüchtlinge, Vertriebene, »Gastarbeiter« oder Asylbewerber. Überwiegend ist das eine Erfolgsgeschichte. Der Moraldiskurs hierzulande aber unterstellt dem Bürger, dass ihm etwas fehle – Wärme eben.
»Wärme« fehlte einst auch Angie – was ich an ihr schätzte. Doch mittlerweile haben sich Frisur, Make-up und Outfit von Tina mit dem Pathos der Wärme zusammengetan, obwohl ich glaube, Angela Merkel manchmal
noch anzumerken, dass ihr die ganze Verkleidung als »Mutti« peinlich ist. Doch was muss, das muss: Sie hatte die Wahl ja beinahe verloren, die sie mit vernunftgesteuerter Sachlichkeit gewinnen wollte. Das Volk, behaupten die Wahlstrategen, will zwar vielleicht nicht direkt belogen, aber wenigstens ein bisschen getätschelt werden.
Ob das stimmt? Für die intelligente Mitte gilt das nicht. Ihr wäre es lieber, die Klamotten kämen endlich auf den Tisch, damit man sich im Blaumann an die Lösung der Probleme machen kann. Wo bleiben die klaren Worte der Kanzlerin?
Ja, manchmal sieht es in der Tat so aus, als ob »die Kanzlerin (…) mit dem Herzeigen ihres Dekolletés gelegentlich freizügiger (ist) als mit dem Vorzeigen ihrer Überzeugungen«. 24 Selbst die jüngsten dramatischen Ereignisse in der EU veranlassten sie nicht zu einer Rede an ihr Volk, in der sie, wie einst versprochen, die Tatsachen darlegte. Die mächtigste Frau der Welt, Kanzlerin einer noch immer enorm starken Wirtschaftsmacht, der Lokomotive Europas, sagt erst laut Nein und schwenkt dann stillschweigend wieder um. Weil ja immer alles so alternativlos ist.
Die Geduldigen »draußen im Lande« und in den Medien warten noch immer darauf, dass es endlich losgeht mit dem »Durchregieren«. Dass der Winter der Entscheidungen anbricht, dass Merkel ein Machtwort spricht. Oder wenigstens eine Rede hält, welche die Nation in Zeiten der Gefahr an ihren Stolz und ihre Stärke erinnert. Meinetwegen auch mit Blut, Schweiß und Tränen.
Wer, wenn nicht sie – Angie?
Ohne es in Stunden und Minuten nachgerechnet zu haben: In der Öffentlichkeit vernimmt man vor allem Angela Merkels Schweigen. Zugegeben, sie stampft schon mal mit dem Fuß auf, wenn es um relativ unwichtige Sachen geht wie »Stuttgart 21« oder die Laufzeitverlängerung für Atommeiler. Was soll sie auch sagen? Dass nicht ein einziges ihrer Reformvorhaben in Gang kommt, weil die Verhältnisse nicht so sind? Weil der schwäbischen Hausfrau das Geld im Portemonnaie fehlt? Weil der jeweilige Koalitionspartner nicht mitzieht? Weil Wahlen anstehen? Weil Deutschland vielleicht sowieso bald pleite ist – mitsamt dem Rest der EU?
Der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht hatte einst die Ehrlichkeit bewiesen, den Plan, Gorleben als Atommülllager auszuweisen, angesichts des heftigen Protestes dagegen für »politisch nicht durchsetzbar« zu erklären. Angela Merkel ist weniger ehrlich. Sie, die sich ihre Kompromissfähigkeit zugutehält, die als Naturwissenschaftlerin pragmatisch und lösungsorientiert denken sollte, sagt heutzutage, etwas sei »alternativlos«, als ob es sich dabei um ein Naturgesetz handelt. Das ist das Eingeständnis, dass politisch nichts mehr zu bewirken ist, zumindest nicht von ihr. Warum dann noch regieren?
Tatsächlich ist der Gefühlssprech, das politische Moralisieren, das Geschichtenerzählen – etwas, das Frauen angeblich lieber haben als die kalten Sachen und harten Fakten – ein probates Mittel, nicht nur von Problemen abzulenken, die man nicht lösen kann, sondern das Wahlvolk in eine einsichtige Herde demütig blökender Schafe zu
verwandeln. Es reduziert politisches Handeln auf Befindlichkeiten, am besten auf »Einstellungen« – die der Wähler und Steuerzahler.
Denn die sollen sich nicht nur identifizieren und solidarisieren (»geht uns alle
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