Angela Merkel - Ein Irrtum
Jahrhundert der »sozialen Frage«, verstand man unter »social« gesellig und verträglich, »social« war also auch der Stammtisch, an dem die berühmten Parolen entstehen. Mit dem Siegeszug der Arbeiterbewegung veränderte sich die mitschwingende Bedeutung des Wortes, es wurde, wie Friedrich August von Hayek bemängelte, »ein Beiwort (…), das jeden Begriff, mit dem man es verbindet, seiner klaren Bedeutung beraubt und zu einem unbeschränkt dehnbaren Kautschukwort macht«. 23 Das Wort »sozial« wurde moralisch aufgeladen, und das bekam ihm nicht. »Sozial« ist heute ein Kampfbegriff, und wer ihn benutzt, will damit den Konkurrenten um die Deutungshoheit als unsozialen Menschenfeind erscheinen lassen.
Die Bezeichnung der eigenen Partei als »Sozial«demokratie war für die SPD ein schönes Erbe des 19. Jahrhunderts. Die FDP hingegen hat es nicht geschafft, sich gegen den Kampfbegriff »neoliberal« zu wehren, mit dem liberale Positionen als »sozial kalt« gebrandmarkt werden. Noch kaum jemandem ist es gelungen, die Umstrukturierung der sozialen Systeme als lebensnotwendige Rettungsmaßnahme
gegen den Vorwurf der »sozialen Kälte« zu verteidigen. Wen wundert das? Alles, was sich als Ankündigung »sozialer Einschnitte« interpretieren lässt, wird vom Protest der Soziallobbys beantwortet.
Die Verwaltung von Bedürftigkeit ist schließlich ein Riesengeschäft und schafft Arbeitsplätze, ähnlich wie die Spendenindustrie, wo zunächst die eigenen Posten bezahlt werden, bevor hungernden Kindern geholfen werden kann.
Wer sich aufs rein Menschliche bezieht, ist fein raus, aber nicht notgedrungen edel. Erpresser an der Haustür haben das längst erkannt: Was, der Kunde will nicht spenden? Dann hat er offenbar etwas gegen Obdachlose, Tiere, die Natur – und gegen »die Menschen«. Wer will schon ein Unmensch sein?
Um die »Betroffenen« geht es bei derlei Hilfsaktionen am wenigsten, das, was »unten« ankommt, sind oft Peanuts im Vergleich zu dem, was ihre Verwaltung kostet. Armut ist relativ, und in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren ist damit noch immer ein vergleichsweise solider Lebensstandard verbunden. Doch für den Fall, dass ein aufgeklärter Spendenwilliger und Steuerzahler das weiß, gibt es gottlob genug hungrige Kinder in Afrika. So wird wenigstens die Armutsindustrie nicht arm.
An dieser Moralisierung des Problems scheitern alle praktischen Lösungen. Wer einmal durchrechnet, wie man ein soziales System wie das unsere auf die Dauer finanzieren kann, und auf Antworten kommt, die den einfachen Losungen widersprechen, gilt als Prophet sozialer Kälte.
Aussprechen, was ist? Nicht bei diesem Thema. Aber auch bei fast keinem anderen.
Stattdessen blüht die Rhetorik der Kapitalismuskritik aus dem 19. Jahrhundert, lautet die stereotype Antwort: den Reichen nehmen, den Armen geben. Klar, hat ja in der DDR und in der Sowjetunion schon super geklappt, wie gerade Angela Merkel als ehemaliger Insasse des Systems bezeugen kann.
Wer rechnen kann, weiß, dass Renten-, Gesundheits-, Pflegesystem, ja der ganze Sozialstaat an seine Grenzen kommt, wenn die Voraussetzungen nicht mehr stimmen. Doch der bundesrepublikanische Diskurs leugnet schon seit Jahrzehnten die Realität. Gefühlte Größen bestimmen stattdessen das Geschäft. Dagegen hatte Angie einst mit deutlichen Worten polemisiert. Tina hingegen hat sich der wirkmächtigen Floskel von der »sozialen Wärme« unterworfen.
Angie wusste es seinerzeit besser. Denn gewiss war es im real existierenden Sozialismus der DDR menschlich warm zugegangen, weil alle zusammenrücken mussten – ein Zwang, der sich nach 1989 erübrigte und viele »Freundschaften« als das entlarvte, was sie waren: Zweckgemeinschaften in einer Mangelsituation. Von dieser Sorte Wärme hatte Angela Merkel gewiss genug genossen. Konnte sie also ahnen, dass »soziale Wärme« im überheizten Kuschelwesten so überaus geschätzt wird?
Die SPD-Strategen wussten es, und sie wussten, was sie taten, als sie der Partei im Wahlkampf 2002 das »Projekt Wärmestrom« verordneten.
Denn im Westen hält sich hartnäckig das Gerücht, es gehe »kälter« zu, wenn Solidarität aus dem Privatbereich ausgelagert und ohne Rekurs auf Familie und Nachbarschaft kollektiv organisiert wird. Genau das aber war der große Schritt, den Bismarcks Sozialreformen bedeuteten: Sie bedeuteten den Anfang vom Ende des Kriegs der Generationen. Und genau das ist die institutionelle Stärke des Westens: die
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