Angela Merkel
dass man die erste Regierungszeit nicht abschaffen kann. Besser wäre es. Gleich mit Regierungszeit II anfangen. Man hätte von Anfang an mutigere, entschlossenere Kanzler. Oder man braucht einen wie Willy Brandt, der gleich in der ersten Regierungszeitdas ganz große Ding wagt, die Ostpolitik, weil er darin eine Notwendigkeit sieht, weil er aus einer festen Überzeugung heraus handelt.
Überzeugungen sind mittlerweile ein Problem für Politiker. In dieser beschleunigten Welt, in der innerhalb von sieben Jahren zweimal eine Säule der Ökonomie einstürzt, in der die Globalisierung die Machtverhältnisse durcheinanderwirbelt, in der ein Medienzirkus jede kleine Entwicklung zu einer großen macht, in der Umfragen das Bild von der Gesellschaft ständig erneuern, ist es schwer, eine Überzeugung zu finden und zu halten. Es gibt keine feste Grundlage, kein klares Bild von der Welt wie noch im Kalten Krieg, als der Antagonismus USA/ Sowjetunion, Nato/Warschauer Pakt dem Geschehen einen festen Rahmen gab und damit auch eine Beschränkung. Es ist gut, dass das verschwunden ist, aber die neue Haltlosigkeit führt auch zur Ungewissheit, damit zu Schwammigkeit in den Gedanken, Haltungen, Überzeugungen.
Dazu kommt dieser gasförmige Zustand der deutschen Politik, dieses seltsame Zusammenspiel von Bedeutsamkeit und Flüchtigkeit. Weil die Medien jedes Wort verstärken, gewinnt es ungeheure Bedeutung, aber dann verfliegt es auch ganz schnell, weil die Medien hungrig sind nach neuen Worten, die im Minutentakt die alten ersetzen. Die Folge ist, dass die Worte nur noch mit einer Minutenabsicht gesagt werden, sie sollen ein Medienjetzt erreichen. Ein Morgen müssen sie nicht haben, sollen sie oft nicht haben. Denn morgen gibt es schon wieder eineandere Welt, in der man mit anderen Worten auftreten will. Die Folge ist: Wer gestern aus Überzeugung Überzeugendes gesagt hat, ist heute schon ein Depp, weil die Worte nicht mehr passen zum Heute. Auch deshalb wird in der Politik so seltsam geredet, und Merkel ist mittlerweile eine Meisterin der unbedeutenden Worte, jedenfalls in der Öffentlichkeit.
Aber einmal hat sie sich festgelegt, das war im Jahr 2003, und diese Worte haben eine gewisse Gültigkeit. Der Unterschied ist vor allem, dass sie damals dachte, sie rede dem Zeitgeist ins Gemüt, und heute mag der Zeitgeist diese Worte nicht. Also weg damit.
Was immer hilft bei der Selbstauflösung, beim Abschied von den eigenen Worten, ist ein Wahltag. Weil ein Wahltag einen Bruch markiert. Dieser Bruch ist so stark, dass man von Welt I und Welt II reden kann. Welt Iist die heiße Wahlkampfphase, Welt II beginnt am Tag nach der Wahl und dauert bis zur nächsten heißen Wahlkampfphase. Bei Schröder sah das so aus: In der Welt I von 2002, dem Bundestagswahlkampf, war er kein Sozialreformer. Inder Welt II, seiner zweiten Regierungszeit von 2002 bis 2005, war er der radikalste Sozialreformer, den die Bundesrepublik je hatte. In der nächsten Welt I, dem Wahlkampf von 2005, hat er sich als Sozialreformer komplett abgeschafft, er tat so, als habe es die Agenda gar nicht gegeben, er erwähnte sie kaum. Er war durch und durch klassischer Sozialdemokrat, und die Sozialdemokraten wollten das für den Wahlkampf glauben. Sie vergaßenihren Zorn gegen die Agenda, feierten und wählten ihn. Es war erstaunlich. Es war so, dass zwei harte, schwierige Reformjahre in einer großen Selbstsuggestion verschwinden konnten. So viel zu den Möglichkeiten, Welt I und Welt II auseinanderzuhalten.
Jeder Politiker weiß, dass er diese Möglichkeit hat. Er fühlt sich frei von den Kongruenz- und Kontinuitätsansprüchen, die andere Menschen an sich stellen. In der schnellen Welt des Berliner Regierungsbezirks zählt das Gestern fast nichts. Jeder kann sich jeden Tag neu erfinden. Dann kommen ein paar Vorhaltungen, aber die stehen im Ruch der Kleinlichkeit. So ist Merkels Welt, und deshalb ist es für sie womöglich gar nicht so ein großes Problem, dass sie einen Reformwahlkampf geführt hat, gegen die Sozialdemokratie, sich nach dem Wahltag aber zur obersten Sozialdemokratin mauserte. Es war eben der Sprung von Welt I in Welt II. Sie folgt einer gängigen Praxis, auch wenn ihr Fall extrem liegt. Politiker gehen davon aus, dass ihnen der Wandel verziehen wird.
Es gibt einen Grund, warum Merkel ein großer Wandel besonders leicht fällt. Der hat mit ihrer Einsamkeit in der CDU zu tun. Merkel hat die Partei früher mit dem sogenannten »Girls Camp« geführt,
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