Angela Merkel
Kraft gesetzt. Wie kam sie dazu? Sie sagt, es gehe ihr um Gleichzeitigkeit, gefühlte Gleichzeitigkeit. Vom Aufschwung sollten alle profitieren. Deshalb könne sie die Forderung der Rentner gut verstehen.
Aber es gab gar keine Forderung.
Die vorausgeahnte Forderung, sagt sie und muss selbst schmunzeln.
Es sei gefährlich, wenn sich die Rentner radikalisierten. Andererseits müsse auch verhindert werden, dass die Jungen auswanderten. Schwierig.
Die Challenger verlässt die Reiseflughöhe. Merkel redet über den Gesundheitsfonds. Ein bisschen verkrumpelt sei er schon, sagt sie, aber darauf komme es gar nicht an. Für Merkel ist wichtig, dass sie sich damit nichts verbaut. Sie kann den verkrumpelten Fonds in eine Gesundheitsprämie à la Leipzig umwandeln, falls sie die SPD bei der nächsten Bundestagswahl loswird. Es gibt einige Projekte, erzählt sie in der Challenger, die sie nicht so sehr mit gegenwärtigen Augen betrachtet, sondern mit zukünftigen. Mit dem Vorschlag der SPD, den Bahnverkehr zu 24,9 Prozent zu privatisieren, kann sie gut leben, weil sie das dereinst ohne SPD auf 49,9 Prozent erweitern könne. Bei den Mindestlöhnen fährt sie eine Hinhaltetaktik, um möglichst wenige davon in die nächste Legislaturperiode mitnehmen zu müssen. Der Ausstieg aus dem Ausstieg bei der Kernenergie ist ohnehin im Blick. Für später. Und die Brücke ins Später bauten ja die Journalisten mit ihren kritischen Artikeln über Merkel, ergänzt einer von Merkels Mitarbeitern. Sie hielten den Reformgedanken lebendig in der Gesellschaft.
Und so ergibt sich eine klare Antwort, wo die Merkel von gestern ist, die große Verbalreformerin. Verschwunden? Nein, sie ist im Morgen. Die Reformerin Merkel ist vom Gestern ins Morgen gesprungen unter Vermeidung der Gegenwart. Sie hat diesen Teil abgespalten und nach vorn verlegt. Ihre schöneren Stunden als Kanzlerin erlebt sie in den Gedanken an 2009 oder 2010, wenn sie sich eine Koalition mit der FDP ausmalt.
Deshalb erlebte Deutschland in Merkels erster Regierungszeiteine Übergangskanzlerin, Merkel war im Transit zu sich selbst. Das bedeutete für die Bürger, dass sie in einer Zwischenzeit steckten, die Politik schaffte Provisorien, die in der kommenden, natürlich großen Zeit nicht im Wege sein sollten. Aber es gibt ein Recht auf Gegenwart. Wenn sich die Kanzlerin zum Teil ins Morgen verdrückt, holt sie nicht das Optimum im Jetzt heraus. Und man möchte schon erwarten dürfen, dass Gesetze, die mit so viel Schweiß entstanden sind wie der Gesundheitsfonds eine längere Lebensdauer haben als eine Topfblume. Zudem wird das Morgen nie so wie erwartet. Ein paar Monate nach dem Gespräch in der Challenger brach die Finanzkrise aus und stellte der Politik ganz neue Aufgaben.
Wenn sich die Kanzlerin gedanklich gerne in der Zukunft bewegt, bleibt ein Vakuum. Die SPD hat es nicht gefüllt, denn die hat sich eher noch mehr mit dem nächsten Wahltag befasst. Indem sie den permanenten Wahlkampf schürte und indem sie ständig um die Frage kreiste, wie sie sich vom Verdacht frei halten kann, nach der nächsten Bundestagswahl ein Bündnis mit der Partei Die Linke einzugehen. Deshalb gab es dieses Riesentheater um Andrea Ypsilanti und ihren Wunsch, sich von den hessischen Linken tolerieren zu lassen. Und es wurde sogar viel über die übernächste Bundestagswahl nachgedacht, wenn dann Oskar Lafontaine im Ruhestand ist sowie alle älteren Sozialdemokraten, die persönlich von ihm enttäuscht sind und deshalb nicht mit seiner Partei koalieren können.
Wer hat also regiert? Denn in der Politik gibt es kein Vakuum. Wenn einer nicht führt, kommen andere und sagen, wo es langgeht. Wer sind diese anderen?
Es ist das Volk.
Noch nie hat das Volk so viel Einfluss auf die Politik gehabt wie in der Regierungszeit von Angela Merkel. Das ist besonders absurd, weil es das Volk als solches nicht mehr gibt. Es ist nur noch Erregungsgemeinschaft, wie der Philosoph Peter Sloterdijk einmal geschrieben hat. Es versammelt sich vor den Fernsehern, wenn die deutsche Mannschaft im Endspiel der Europameisterschaft steht. Dann fiebert es für den Sieg der eigenen Mannschaft (wobei es gerade in Deutschland immer noch eine erhebliche Menge von Leuten gibt, die der deutschen Nationalmannschaft nichts so sehr wünschen wie eine Niederlage, weil sie Deutschland blöd finden und alles, was das Wort national trägt, sowieso). Ansonsten gibt es das Volk nur noch im Wort Volkswagen oder im Wort Volksfürsorge,
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