Angela Merkel
Firmen, die sich heute auch nicht mehr so nennen würden. Volksparteien gibt es auch noch, aber bei denen steht im Zweifel, ob sie ihren Namen zu Recht tragen. CDU und SPD haben ihre Mitgliedszahlen in den letzten beiden Jahrzehnten fast halbiert. Bei der Bundestagswahl 2005 holten sie nur noch gut zwei Drittel der Stimmen, bei sinkender Wahlbeteiligung. Sogar der CSU ist es bei der Landtagswahl 2008 nicht gelungen, eine Mehrheit der bayerischen Wähler für sich einzunehmen. Die Politik muss sich wohl dauerhaft auf ein Fünf- oder Sechsparteiensystem einrichten. Das gilt als Ausdruck einerGesellschaft, die sich aufspaltet, aufsplittert, die sich individualisiert. Es gibt also gar nicht das Volk, dauerhaft gab es das wahrscheinlich nur während der Nazi- und Kriegsjahre, als Deutschland ständig Erregungsgemeinschaft war.
Es gibt das Volk aber als Konstrukt, so wie es auch in diesem Text gebraucht wurde. Es ermittelt sich aus permanenten Umfragen und Landtagswahlen. Umfragen haben mittlerweile eine Bedeutung wie kleine Wahlen. Und Landtagswahlen haben eine Bedeutung wie große Wahlen, also Bundestagswahlen. Der meistgehörte Satz im Berliner Regierungsviertel in den zwei, drei Monaten vor der Bayernwahl war: Davor geht gar nichts, das können wir erst danach machen. So starren alle auf die nächste Wahl, die nächste Umfrage und richten ihr Verhalten danach aus. Über Deutschland liegt damit die Nervosität einer permanenten Volksbefragung. Und die endet immer in einem vorsätzlichen Irrtum. Denn das Volk gibt sich ja gar nicht in großen absoluten Zahlen zu erkennen. Es zeigt sich gespalten in fast allen Fragen. Trotzdem wird es aus diesen Umfragen und Wahlergebnissen herauskonstruiert, und das geht so: Das Spannende ist immer die Bewegung. Was hat sich seit der letzten Umfrage, der letzten Wahl verändert? Meist gar nicht so furchtbar viel. Aber man muss ja nur kleinen Bewegungen ein großes Wort verleihen, dann sind sie groß. Linksrutsch ist das Wort, das Merkels erste Regierungszeit geprägt hat. In Wahrheit hat sich eine relativ kleine Zahl von Leuten nach links bewegt, aber die stehen dann für alle.Linksrutsch wird zum Synonym für eine Volksbewegung. Und die macht dann Politik, über die Verstärkung durch die Medien und über die Leute, die sich zum Volkstribun machen, Oskar Lafontaine zum Beispiel. In Wahrheit regieren damit Minderheiten, zuletzt vor allem Transferempfänger. Ihre Bedürfnisse haben die Debatte überproportional stark bestimmt. Für ihre Bedürfnisse wurde in Merkels erster Regierungszeit vor allem Reformpolitik gemacht.
Und wir wissen alle, wie sehr Umfragen danebenliegen können. Wir wissen es spätestens seit der Bundestagswahl 2005, als die Umfragen bis zum Samstag vor dem Wahlsonntag ermittelt haben, dass Angela Merkel um die 40 Prozent holen wird.
Aber selbst wenn all diese Umfragen richtige Ergebnisse ermitteln würden, selbst wenn sich klare Mehrheiten zu manchen Fragen ermitteln ließen, wäre ich immer noch dagegen, dass sich die Bundespolitik nach Umfragen und den Ergebnissen von Landtagswahlen ausrichtet. Denn ich glaube immer noch daran, dass es besser ist, ein Land für vier Jahre Politikern zu überlassen als einer sogenannten Volksmeinung.
Man kann das auch anders sehen. Man kann sagen, dass Demokratie die Herrschaft des Volkes ist. Stimmt. Deshalb sollte sich die Politik auch nach den Bedürfnissen des Volkes richten. Stimmt nicht. Deutschland ist eine repräsentative Demokratie. Sie setzt großes Vertrauen in Politiker.
Ich habe einmal erlebt, wie Angela Merkel ein leidenschaftlichesPlädoyer für die repräsentative Demokratie gehalten hat. Das war an jenem Abend in Brüssel, nach dem Krisengipfel zu Irland. Das irische Volk hatte sich gegen den Vertrag von Lissabon entschieden, obwohl kaum ein anderes Land so sehr von der EU profitiert hat.
Als Merkel gegen Mitternacht zum Hintergrundgespräch in ihr Hotel kam, war sie die Kanzlerin einer glücklichen Erregungsgemeinschaft. Die deutsche Nationalmannschaft hatte gerade Portugal in einem grandiosen Viertelfinale bei der Europameisterschaft besiegt. Die ersten Fragen drehten sich deshalb um Fußball. Dann ging es um die Iren und die EU. Es ging um den Sinn oder Unsinn solcher Volksbefragungen. Merkel beantwortete eine Weile Fragen, dann brach es aus ihr heraus. Sie hielt ein langes Plädoyer für die Profipolitik. Sie rief aus, dass man denen, die 16 Stunden am Tag nichts anderes machten, als sich mit politischen
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