Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autobahn zu fliehen. Ich bin mir nicht sicher, wo die Leute hinwollten, und ich schätze, das wussten sie selbst nicht so genau, denn die Straße ist zu beiden Seiten blockiert.
Es dauert nicht lange, bis wir die ersten Leichen sehen.
12
Eine Familie, die in einer Blutlache liegt.
Ein Mann, eine Frau und ein ungefähr zehnjähriges Mädchen. Das Kind liegt am Waldrand, die Erwachsenen hingegen in der Mitte der Straße. Entweder ist das Kind weggelaufen, als seine Eltern angegriffen wurden, oder es hat sich während der Attacken versteckt und wurde im Nachhinein entdeckt.
Sie sind noch nicht lange tot. Das erkenne ich daran, dass das Blut auf ihrer zerlumpten Kleidung hellrot ist. Ich muss schlucken und bemühe mich, das Katzenfutter in meinem Magen zu behalten.
Ihre Köpfe sind noch heil. Dankenswerterweise hat es dem Mädchen die Haare ins Gesicht geweht. Ihre Körper jedoch sehen ziemlich übel aus. Ihre Oberkörper sind bis auf die Knochen abgenagt, nur einzelne Fleischfetzen hängen noch daran, und es fehlen ein paar Arme und Beine. Ich bringe es nicht über mich, sie mir genauer anzuschauen, aber Raffe tut es.
»Bissspuren«, sagt er und kniet sich vor den Mann auf den Asphalt.
»Von welchem Tier reden wir?«
Er geht neben den Leichen in die Hocke und denkt über meine Frage nach. »Von dem zweibeinigen mit den stumpfen Zähnen.«
In meinem Magen beginnt es zu rumoren. »Was willst du damit sagen? Dass das Menschen waren?«
»Vielleicht. Die Spuren stammen von ungewöhnlich kräftigen Zähnen, aber es sieht in jedem Fall nach einem menschlichen Gebiss aus.«
»Das kann nicht sein.« Doch ich weiß, dass es durchaus möglich ist. Um zu überleben, tun Menschen alles. Trotzdem, das ergibt keinen Sinn. »Das ist zu verschwenderisch. Wenn jemand schon verzweifelt genug ist, um zum Kannibalen zu mutieren, dann beißt er nicht nur ein paarmal zu und geht.« Doch aus diesen Körpern wurden mehr als nur ein paar Stücke herausgebissen. Jetzt, da ich mich dazu durchringe, sie richtig anzuschauen, sehe ich, dass sie halb aufgefressen wurden. Aber trotzdem, warum die Hälfte übrig lassen?
Raffe späht dorthin, wo eigentlich die Beine der Leiche sein müssten. »Ihre Gliedmaßen wurden ihr direkt aus dem Hüftgelenk gerissen.«
»Es reicht«, sage ich und trete zwei Schritte zurück. Dann scanne ich die Umgebung ab. Wir befinden uns auf offenem Feld, und ich bin so ängstlich wie eine Maus, die in einen Himmel voller Habichte starrt.
»Nun«, sagt Raffe, während er aufsteht und seinen Blick prüfend über die Bäume schweifen lässt. »Hoffen wir, dass die Täter die Gegend noch unter Kontrolle haben.«
»Warum?«
»Weil sie keinen Hunger mehr haben.«
Das trägt nicht unbedingt dazu bei, dass ich mich besser fühle. »Du bist ganz schön krank, weißt du das?«
»Ich? Wieso ich? Meine Leute haben das hier nicht getan.«
»Woher willst du das wissen? Ihr habt dieselben Zähne wie wir.«
»Aber wir sind nicht verzweifelt.« So wie er das sagt, klingt es, als hätten die Engel nichts mit unserer Verzweiflung zu tun. »Und auch nicht verrückt.«
In diesem Moment sehe ich das zerbrochene Ei.
Es liegt am Straßenrand in der Nähe des Kindes. Das Eigelb ist bereits braun, das Eiweiß geronnen. Es ist der vertraute Gestank, der in den letzten zwei Jahren während des Faule-Eier-Ticks meiner Mutter in meine Kleider, meine Kissen und meine Haare gedrungen ist. Daneben liegt ein Sträußchen wilder Zweige. Rosmarin und Salbei. Entweder fand meine Mutter das hübsch, oder ihr Wahnsinn hat eine sehr makabre Färbung angenommen.
Dennoch heißt es nichts weiter, als dass sie hier war. Das ist alles. Niemals könnte sie es mit einer ganzen Familie aufnehmen.
Eine Zehnjährige, die aus ihrem Versteck hervorkriecht, nachdem man ihre Eltern umgebracht hat, hätte sie jedoch überwältigen können.
Sie war hier und ist an den Leichen vorbeigelaufen, genau wie wir. Das ist alles.
Wirklich, das ist alles.
»Penryn?«
Mir wird klar, dass Raffe mit mir gesprochen hat.
»Was?«
»Könnten es Kinder sein?«
»Könnten was Kinder sein?«
»Die Angreifer«, sagt er langsam. Offensichtlich ist mir ein Teil unserer Unterhaltung entgangen. »Wie ich schon sagte, die Bissspuren scheinen mir zu klein, um von Erwachsenen zu stammen.«
»Dann müssen es Tiere sein.«
»Tiere mit stumpfen Zähnen?«
»Ja«, sage ich beherzter, als mir eigentlich zumute ist. »Das ergibt doch mehr Sinn als ein Kind, das eine ganze
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