Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
sind da drüben. Sie beobachten uns.«
Alles, was ich sehen kann, ist eine leere Straße, die sich durch Mammutbäume schlängelt.
»Woher weißt du das?«
»Ich höre sie.«
»Wo sind sie denn?«, flüstere ich. Wie weit sind sie weg und wie weit kannst du hören?
Er sieht mich an, als wüsste er, was ich denke. Abgesehen von seinem unglaublichen Gehör kann er doch nicht auch noch Gedanken lesen, oder? Er zuckt die Achseln und wendet sich ab, um wieder im Schutz der Bäume zu verschwinden.
Versuchsweise gebe ich ihm in Gedanken alle möglichen Schimpfnamen. Als er nicht darauf reagiert, rufe ich in meinem Kopf ein paar willkürliche Bilder auf, um zu sehen, ob ich ihn dazu bringen kann, mir einen komischen Blick zuzuwerfen. Aus irgendeinem Grund driften meine Gedanken zu jener Nacht, in der ich geträumt habe, ich würde im Wasser erfrieren, zu dem Moment, in dem er mich in den Armen gehalten hat … In meiner Fantasie erwache ich auf der Couch und drehe mich zu ihm. Er ist so nah, dass sein Atem federleicht meine Wange streift, während ich mich ihm zuwende …
Ich halte inne. Ich denke an Bananen, Orangen und Erd beeren. Bei dem Gedanken, dass er gespürt haben könnte, was mir durch den Kopf gegangen ist, fühle ich mich zutiefst gedemütigt. Doch er geht einfach nur weiter durch den Wald. Keinerlei Anzeichen dafür, dass er meine Gedanken lesen kann. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass er dementsprechend auch nicht weiß, was die denken. Anders als er kann ich nichts hören, sehen oder riechen, was darüber Aufschluss geben würde, dass uns irgendjemand aus dem Hinterhalt überfallen will.
»Was hast du gehört?«, frage ich leise.
Er dreht sich zu mir um und flüstert zurück: »Zwei Leute, die miteinander flüstern.«
Danach sage ich nichts mehr und laufe ihm einfach nur hinterher. Die Wälder hier bestehen fast ausschließlich aus Mammutbäumen. Der Waldboden unter uns ist völlig frei von raschelndem Laub. Stattdessen bietet uns der Wald genau das, was wir brauchen: Einen Teppich aus weichen Nadeln, der den Klang unserer Schritte verschluckt.
Ich würde ihn gerne fragen, ob die Stimmen in unsere Richtung vordringen, aber ich traue mich nicht, unnötig die Stimme zu erheben. Wir können versuchen, ihr Territo rium zu umgehen, aber die ungefähre Richtung müssen wir schon beibehalten, wenn wir nach San Francisco wollen.
Bergab beschleunigt Raffe seinen Schritt so sehr, dass er beinahe rennt. Ich folge ihm blind und nehme an, er hört etwas, das ich nicht höre. Doch dann dringt es auch zu mir vor. Hunde.
Ihrem Bellen nach zu urteilen, kommen sie direkt auf uns zu.
14
Wir sprinten los, wobei wir auf den Nadeln mehr rutschen, als dass wir rennen. Kann es wirklich sein, dass diese Leute sich Hunde halten? Oder ist das ein wildes Rudel? Wenn die Tiere wild sind, müssten wir in Sicherheit sein, wenn wir auf einen Baum klettern. Wenn sie jedoch gehalten werden … Der Gedanke übersteigt meine Vorstellungskraft. Um sich selbst und die Hunde zu ernähren, bräuchten ihre Besitzer genug zu essen. Aber wer verfügt über so viel Reichtum, und wie ist er dazu gekommen?
Das Bild der ermordeten Familie kommt mir wieder in den Sinn. Dann schaltet sich mein Verstand aus, und meine Instinkte übernehmen.
Das Hundegebell lässt keinen Zweifel: Sie kommen näher. Die Straße liegt inzwischen weit hinter uns, sodass wir in kein Auto mehr springen können. Wir werden wohl mit einem Baum vorliebnehmen müssen.
Panisch suche ich den Wald nach einem geeigneten Baum ab. Weit und breit ist keiner zu sehen, auf den wir klettern könnten. Die Mammutbäume ragen hoch und schnurgerade um uns herum auf, ihre Äste schießen senkrecht aus den Stämmen. Ich müsste mindestens doppelt so groß sein, um auch nur an den untersten Zweig eines dieser Bäume heranzukommen.
Raffe springt hoch und versucht, einen der Äste zu erreichen. Obwohl er sehr viel höher springt, als es ein normaler Mann könnte, reicht es nicht. Vor lauter Wut schlägt er mit der Faust gegen den Stamm. Ich schätze, er musste vorher noch nie in die Höhe springen. Warum auch, wenn man fliegen kann?
»Kletter auf meine Schultern«, sagt er.
Ich bin mir nicht sicher, was er für einen Plan hat, aber die Hunde werden lauter. Keine Ahnung, wie viele es sind, in jedem Fall jedoch nicht nur ein oder zwei, sondern ein ganzes Rudel.
Er fasst mich um die Taille und hebt mich hoch. Er ist stark. Stark genug, um mich bis auf seine Schultern
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