Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
gesehen haben und in denen sich Flüchtlinge nach einer Katastrophe zu Tausenden versammeln. Soweit ich es beurteilen kann, fressen die Menschen einander nicht auf, aber sie sehen hungrig und verzweifelt aus. Sie berühren die Autofenster, als hätten wir verborgene Reichtümer darin versteckt, die wir mit ihnen teilen könnten.
»Fahr da drüben rechts ran.« Raffe deutet auf eine Stelle, die mal so was wie eine Parklücke war und auf der sich jetzt Autos übereinanderstapeln. Ich fahre hin und parke. »Mach den Motor aus. Verriegel die Türen und sei auf der Hut, bis sie uns vergessen haben.«
»Sie werden uns vergessen?«, frage ich, während ich ein paar Jungs von der Straße dabei zusehe, wie sie auf unsere Motorhaube klettern und es sich in der Wärme gemütlich machen.
»Viele Leute schlafen in ihren Autos. Wahrscheinlich werden sie nichts unternehmen, bis sie glauben, dass wir schlafen.«
»Wir schlafen hier drin?« Bei all dem Adrenalin, das mir durch die Adern fließt, ist es das Letzte, was ich will, umgeben von verzweifelten Menschen hinter Glasscheiben zu schlafen.
»Nein. Wir ziehen uns hier drin um.« Raffe greift nach hinten auf den Rücksitz und schnappt sich seinen Rucksack. Er zieht ein scharlachrotes Partykleid daraus hervor, das so klein ist, dass ich es zunächst für einen Schal halte. Es ist genau die Art eng anliegendes Minikleid, die ich mir mal von meiner Freundin Lisa geliehen habe, als sie mich dazu überredet hat, mit ihr durch die Klubs zu ziehen. Sie hatte gefälschte Ausweise für uns, und es hätte ein lustiger Abend werden können, wenn sie sich nicht betrunken hätte und mit irgendeinem Typen vom College abgezogen wäre, sodass ich alleine nach Hause finden musste.
»Wofür ist das denn?« Irgendwie glaube ich nicht, dass er vorhat, in Klubs zu gehen.
»Zieh es an. Sieh so gut aus, wie du kannst. Das ist unsere Eintrittskarte.« Vielleicht will er doch in einen Klub.
»Du haust aber nicht mit irgendeinem betrunkenen College-Mädel ab, oder?«
»Was?«
»Egal.« Ich nehme den Fetzen Stoff, dazu passende, ebenso knappe Schuhe und – zu meiner Überraschung – eine seidene Strumpfhose. Was auch immer Raffe nicht über Menschen weiß, Frauenkleider gehören nicht dazu. Ich werfe ihm einen durchdringenden Blick zu und frage mich, wo er diese Erfahrungen gesammelt haben könnte. Cool erwidert er meinen Blick, und seine Augen geben nichts preis.
Leider gibt es keinen ungestörten Ort, wo ich mich – abgeschirmt von den neugierigen Blicken der Obdachlosen auf unserer Motorhaube – umziehen könnte. Lustig, ich bezeichne die Männer immer noch als obdachlos, obwohl wir alle kein Dach mehr über dem Kopf haben. In alten Zeiten waren das wahrscheinlich mal South-of-Market-Hipster, und mit »alten Zeiten« meine ich: vor wenigen Monaten.
Zum Glück weiß jedes Mädchen, wie man sich in der Öffentlichkeit umzieht. Ich ziehe mir das Kleid über den Kopf und unter mein Sweatshirt, schlüpfe aus den Ärmeln meines Sweatshirts und benutze es als Vorhang, während ich mich in das Kleid schlängle. Dann ziehe ich es mir bis auf die Hüften hinunter und lege meine Stiefel und die Jeans ab.
Der Saum reicht nicht so weit herunter, wie ich es gerne hätte, und ich ziehe ihn tiefer, um ein bisschen anständiger zu wirken. Man sieht viel zu viel Oberschenkel. Diese Art Aufmerksamkeit ist nun wirklich das Letzte, worauf ich an so einem Ort aus bin, inmitten von gesetzlosen Männern in verzweifelter Lage.
Als ich Raffe mit Furcht in den Augen anblicke, sagt er: »Es ist die einzige Möglichkeit.« Ich merke, dass es ihm auch nicht gefällt.
Ich will mein Sweatshirt nicht ausziehen, denn mir ist bewusst, wie knapp das Kleid ist. Auf einer Party der zivilisierten Welt hätte ich mich darin vielleicht wohlgefühlt, ja vielleicht wäre ich sogar richtig begeistert gewesen, weil es so hübsch ist. Wobei ich keine Ahnung habe, ob es hübsch ist, denn ich sehe mich ja nicht. Was ich allerdings merke, ist, dass es wahrscheinlich eine Nummer zu klein ist, denn es ist ziemlich eng. Keine Ahnung, ob das so sein soll, in jedem Fall trägt das nur noch mehr zu dem Gefühl bei, inmitten lauter Wilder nackt zu sein.
Raffe hat keine Skrupel, vor Fremden zu strippen. Er zieht sich sein T-Shirt und die Cargohose aus und schlüpft stattdessen in ein Smokinghemd und eine schwarze Smo kinghose. Mehr als alles andere hält mich das Gefühl, selbst beobachtet zu werden, davon ab, ihn unverfroren anzustarren.
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