Angelglass (German Edition)
Blutgerücht
Die ganze Nacht und den folgenden Morgen verbringe ich mit der vergeblichen Suche nach Jakob. Seine Räume sehen noch genauso aus wie gestern, als wir zu unserer geheimen Mission in Doktor Dees Quartier aufgebrochen sind. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Anscheinend ist er von dem hellen Licht verschluckt worden, das der Zauberspiegel ausgestrahlt hat. Ich suche Hannah auf, entscheide mich jedoch, ihr nichts von den seltsamen Geschehnissen der vergangenen Nacht zu erzählen. Hannah wirkt nicht sonderlich besorgt. »Ich habe meinen Vater schon ein paar Tage nicht gesehen«, sagt sie mit einem Achselzucken. »Das ist gar nicht mal so ungewöhnlich. Die Arbeit im Schloss hält uns auf Trab, Meister Poutnik. Es kommt oft vor, dass ich ihn tagelang nicht sehe.«
Ich fürchte allerdings, dass sie ihn gar nicht mehr wiedersehen wird. Ich kann nicht begreifen, was in Doktor Dees Zimmer geschehen ist. Doch jetzt bin ich nicht nur ein wenig beunruhigt, sondern verspüre große Angst. Dee und Kelley behaupten, durch ihr sogenanntes Engelsglas mit einem himmlischen Wesen namens Uriel zu kommunizieren. Ganz klar ist es mir nicht, aber in meinem Herzen weiß ich, dass die Beschwörung Uriels in Anwesenheit von Rudolf nur ein ausgemachter Schwindel war. Aber dennoch habe ich diese Stimme in Dees Quartier gehört:
Nein, Uriel, es ist noch nicht an der Zeit.
Ein weiterer Trick von Dee oder Kelley? Bauchrednerei? Oder hat da wirklich jemand gesprochen? Aber wer? Eine Stimme aus dem Inneren des Zauberspiegels? Oder aus den himmlischen Sphären, mit denen die Zauberer in Kontakt zu stehen behaupten? Doch ganz offensichtlich war es nicht die Stimme dieses Uriels. Nein, die Stimme hat zu Uriel gesprochen.
Darüber hinaus muss ich mich noch immer mit den Plänen befassen, die Kelley, Percy und Carlo Fantom ausbrüten. Percy hat Kelley geraten, spätestens heute sein »Ablenkungsmanöver« durchzuführen. Und morgen Abend will Percy die Harten Männer in ihrem Lager in den Wäldern außerhalb von Prag aufsuchen. Ich habe beschlossen, ihm zu folgen, um weitere Informationen zu sammeln, die ich Sir Anthony dann vorlegen kann. Doch zunächst muss ich dafür Sorge tragen, dass Hannah in Sicherheit ist. Ein weiteres Mal suche ich sie in der Schlossküche auf.
»Meister Poutnik«, begrüßt sie mich mit einem Lächeln. »Gleich zwei Mal am Tag. Ich fühle mich überaus geehrt.«
»Hannah«, sage ich und komme gleich zur Sache. »Du musst aus dem Schloss verschwinden, wenn möglich sofort.«
Stirnrunzelnd sieht sie mich an. »Das kann ich nicht tun. Ich muss mich um meine Arbeit kümmern …«
»Bitte«, flehe ich sie an. »Tu es für mich. Ich fürchte, du bist in großer Gefahr.«
Einen Augenblick lang ist Hannah ganz still. »Welche Art von Gefahr?«
»Das … das kann ich nicht sagen. Noch nicht. Du musst mir vertrauen.«
Sie scheint keine Einwände zu haben. »Morgen habe ich sowieso frei. Dann werde ich also nach meiner Arbeit heute Nachmittag ins Getto zurückkehren. Beruhigt dich das?«
»O ja«, erwidere ich erleichtert. »Ich danke dir.«
»Aber du musst zu mir kommen und mir erzählen, worum es überhaupt geht. Versprichst du mir das?«
»Ich verspreche es«, versichere ich ihr.
Wieder einmal werde ich in den großen Saal zitiert, um Rudolf zu treffen. Als ich angekündigt werde, sind Dee und Kelley bereits anwesend; der Zauberspiegel liegt zwischen ihnen. Jetzt ist der Spiegel nur ein Brocken aus Obsidian, kein glühendes, gleißendes Objekt mehr wie am Abend zuvor. Dee und Kelley scheinen keinerlei Verdacht zu hegen, dass ich mir an dem Engelsglas zu schaffen gemacht habe.
»Ah, der Spiegel von Prag«, sagt Rudolf. »Gerade zur rechten Zeit. Meister Dee und Meister Kelley sind gerade dabei, noch einmal die Geister für uns zu beschwören.
»Natürlich nur, wenn die Geister zu sprechen bereit sind, Exzellenz«, sagt Dee mit ruhiger Stimme.
»Aber bin ich etwa nicht Rudolf II .?«, erwidert der Kaiser gut gelaunt. »Doch zunächst etwas anderes. Wir sprachen über das Imperium, nicht wahr, Doktor Dee?«
»In der Tat, Exzellenz«, sagt Dee mit einem Nicken. »Königin Elisabeth ist eine große Anhängerin des Imperiums. Ich habe bereits vorausgesagt, dass England eines Tages die meisten Länder auf der Erde regieren wird. Ich habe den Begriff ›Britannien‹ geprägt, um dieses riesige Reich zu beschreiben.«
»Ein Reich, das größer ist als das der Habsburger?« Rudolf ist skeptisch. »Aber das
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