Angelglass (German Edition)
ein Lauffeuer im Schloss herumgesprochen. Alle, die aus dem Getto kommen und im Schloss arbeiten, sind im Laufe des Nachmittags geflohen. Ich halte Ausschau nach Hannah, doch ihre Arbeitsschicht war schon vor dem Auftritt von Dee und Kelley beendet. Sie wird keine Ahnung haben. Ich muss unbedingt mit ihr reden.
Als ich das Schloss verlassen will, versperrt mir ein Wächter den Weg. »Ich würde nicht in die Stadt hinuntergehen, Meister Poutnik«, rät er mir.
»Wieso nicht?«
»Am Altstädter Ring hat es einen Aufruhr gegeben.« Ich blicke auf die Stadt hinunter und sehe in der Ferne eine dünne Rauchsäule aufsteigen. »Ein paar der jüdischen Händler wurden angegriffen. Der Pöbel versucht, ins Getto einzudringen.«
Ich dränge mich an dem Wächter vorbei und laufe die Straße entlang, die vom Hradschin hinunterführt. Besorgte Bürger stehen vor ihren Häusern und erörtern mit leiser Stimme die neuesten Entwicklungen. Plötzlich fallen mir die Worte ein, die ich Kelley gestern in den Königlichen Gärten habe sagen hören: »Und das Ablenkungsmanöver? Ich habe heute Morgen bei Rudolf bereits die Basis gelegt.« Dann ist diese schändliche Lüge also ein Teil des Plans? Wenn es so ist, hat sie ihren Zweck sicher erfüllt. Die Worte, die Kelley als Uriels Botschaft ausgegeben hat, führen dazu, dass Prag in Flammen steht. Als ich weitergehe, sehe ich eine Frau vorbeihasten, die ihre beiden Kinder eng an sich drückt. Eine Gruppe von drei fliegenden Händlern unterhält sich leise.
»Es heißt, die Juden würden unsere Kinder bei Vollmond entführen. Mein Nachbar hat gestern zwei Juden in der Nähe der Schule gesehen«, sagt der erste.
»Aber es ist doch noch nicht einmal Vollmond«, spottet sein Kamerad.
»Vielleicht sind sie ja so verzweifelt auf Kinderblut aus, dass sie sie zu jeder erdenklichen Zeit entführen«, vermutet der dritte.
Wie ist es nur möglich, dass diese Worte so schnell und gründlich von der Stadt Besitz ergriffen haben? Die Menschen sind anscheinend bereit, diese Lügen zu glauben, ohne sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Wie viele würden diesen Unsinn wohl glauben, wenn sie wüssten, dass er aus dem Mund eines Mannes stammt, der behauptet, mit Engeln zu sprechen? Doch als ich mich umsehe, die hasserfüllten Gesichter erblicke und mich an die grobe Behandlung erinnere, die Hannah auf der Karlsbrücke widerfahren ist, wird mir leider klar, dass die Quelle der Worte, und vielleicht sogar die Worte selbst, völlig bedeutungslos sind. Den Bürgern ist ein Grund gegeben worden, die Juden zu hassen. Das allein zählt.
Eine Ablenkung, die fachmännisch inszeniert wurde. Doch eine Frage bleibt: Eine Ablenkung wovon?
Schnell laufe ich in Richtung Getto. Während ich die Karlsbrücke überquere, wird die Menschenmenge immer dichter, und als ich schließlich den Altstädter Ring erreiche, muss ich mich durch die eng zusammenstehenden Horden geradezu hindurchkämpfen. Der Stand eines Händlers ist in Flammen aufgegangen, der Rauch steigt in die windstille Luft empor und die Leute reden laut durcheinander. Als ich mich weiter vorkämpfe, stoße ich auf eine Gruppe wütender Menschen, die sich um einen alten, auf dem Boden zusammengekauerten Mann geschart haben.
»Mörder!«, schreit eine Frau und tritt dem Alten fest in die Seite. Ein Mann schlägt ihn mit seinem Stock und eine junge Mutter spuckt dem zitternden alten Juden ins Gesicht, bevor sie mit ihrem kleinen Sohn davoneilt.
»Was ist hier los?«, rufe ich und kämpfe mich ein Stückchen weiter vor. »Lasst ihn in Ruhe!«
Ein glatzköpfiger Mann mit schmutzigem Gesicht dreht sich zu mir. »Er ist ein stinkender, kinderfressender Jude. Er verdient es nicht anders.«
Ein dünner Mann sieht mich aufmerksam an. »Hey, ist der da auch ein Jude?«
Alle sehen plötzlich zu mir. Der kleine Glatzkopf reißt die Augen auf. »Er sieht komisch aus. Sieht aus wie ein Judenbengel.«
»Kindermörder!«, ruft die erste Frau beinahe hysterisch. Mit erhobenen Fäusten und Stöcken kommt die Horde auf mich zu. Ich reiße die Arme hoch, um mich zu verteidigen. Schon spüre ich den ersten heftigen Schlag auf dem Arm und fürchte bereits, unter dem Gewicht der wütenden Menge zerdrückt zu werden. Doch plötzlich spüre ich, wie jemand meine Schulter fest umfasst und mich von meinen Angreifern wegzerrt.
Die Menge verstummt und blickt eingeschüchtert auf. Als ich herumwirbele, entdecke ich Finn, den Riesen, flankiert von einer kleinen
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