Angelglass (German Edition)
Mannschaft aus Palastwachen. »Was geht hier vor?«, knurrt er.
»Er ist ein Kindermörder«, erwidert die Frau, jetzt etwas weniger hysterisch.
»Kümmert euch um eure eigenen Geschäfte!«, brüllt Finn. Die Menge zerstreut sich schnell. Einer der Soldaten tritt zu dem auf dem Boden liegenden, alten Juden. »Tot«, konstatiert er mit ruhiger Stimme.
»Der Altstädter Ring wird geräumt«, befiehlt Finn seinen Männern. »Meister Poutnik, geht es Euch gut?«
»Ja, vielen Dank, Finn. Anscheinend stehe ich wieder einmal in Eurer Schuld. Ihr habt mir das Leben gerettet.«
Finn wirft einen Blick über den Platz. Sein normalerweise unbekümmertes Gesicht wirkt ernst. »Das hier ist schlecht, Meister Poutnik. Sehr schlecht. Ich habe die Menschen noch nie so aufgebracht erlebt. Wir waren eben auf unserem Weg zu den Toren des Gettos. Ich denke, Ihr solltet uns begleiten. Später kann ich Euch zurück zum Schloss bringen.«
Nachdem Finn die halbe Kompanie zur Räumung des Altstädter Rings abkommandiert hat, läuft er mit großen Schritten durch die Straßen, die zum Getto führen. Als wir um eine Ecke biegen, empfängt uns lautstarkes Gezeter. Ein halbes Dutzend Soldaten versucht eine Horde von circa dreihundert Menschen von den Toren des Gettos zurückzudrängen, die zwar geschlossen sind, doch nicht gerade sehr stabil an ihren rostigen Angeln hängen.
O nein. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. In der Annahme, die Gefahr würde vom Schloss ausgehen, habe ich Hannah zurück ins Getto geschickt. Jetzt schwebt sie in weitaus größerer Gefahr, als ich es mir je hätte träumen lassen.
Finn tritt ein paar Schritte vor, zückt seine Lanze und befiehlt den Menschen, sich zurückzuziehen. Die Masse verstummt und teilt sich, um ihn durchzulassen. »Wie ist die Lage?«, fragt der Riese den gehetzten Hauptmann an den Toren des Gettos.
»Gott sei gedankt, dass du gekommen bist!«, erwidert der Soldat. »Viel länger hätten wir sie nicht zurückhalten können. Sie versuchen, ins Getto zu drängen.«
Der Mann senkt die Stimme. »Meinetwegen können wir sie auch einfach hineinlassen. Das ganze Problem könnte schon morgen gelöst sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
Finn wirft ihm einen vernichtenden Blick zu. »Die Menschen im Getto befinden sich ab sofort unter meinem Schutz. Niemand wird diese Tore passieren. Ich habe schon einen Menschen gesehen, der aufgrund dieses Irrsinns gestorben ist. Und das ist schon mehr als genug.«
Der Pöbel wird plötzlich wieder unruhig. »Lasst uns durch!«, ruft ein Mann. Lautstark stimmen die anderen ein. »Das Getto soll brennen!«
»Geht alle nach Hause!«, brüllt Finn so laut, dass es in den Ohren schmerzt. »Es wird heute kein Feuer geben! Geht nach Hause!«
Als Finns Männer beginnen, die Menge auseinanderzutreiben, kommt er zu mir. »Ihr seid hier nicht sicher, Meister Poutnik. Ich werde zwei Männer zum Schloss schicken und um Verstärkung bitten. Ihr werdet sie begleiten.«
»Aber was ist mit Hannah …«, protestiere ich.
»Wenn euer Mädchen im Getto ist, verspreche ich Euch, dass ihr kein Leid geschehen wird. Vertraut Ihr mir?«
Widerstrebend nicke ich. »Ihr habt mir zweimal das Leben gerettet, Finn. Ich vertraue Euch.«
»Dann geht jetzt. Und wenn Ihr Euren Einfluss bei Hofe geltend machen könnt, dann müsst Ihr versuchen, diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Ich flehe Euch an.«
Als die Dämmerung einsetzt, stehe ich in der schmucklosen Kammer oben auf dem Weißen Turm und blicke über Prag. Mindestens ein halbes Dutzend Feuer brennt in der Stadt, und erst vor wenigen Minuten konnte ich sehen, wie sich die gehetzten Schlosswachen gegen vereinzelte Gruppen des Pöbels in den Straßen unter uns zur Wehr setzen mussten. Auf Anraten seiner Generäle hat Rudolf ein Ausgangsverbot über die Stadt verhängt, was sich jedoch nur schwer durchsetzen lässt. Prag ist von Irrsinn befallen. Wenn ich an Hannah denke, wird es mir schwer ums Herz.
Ein atemloser Bote kommt die Stufen heraufgestiegen und unterbricht mich in meinen düsteren Betrachtungen. »Meister Poutnik«, keucht er. »Ich habe überall nach Euch gesucht. Ihr werdet in der großen Halle erwartet.«
»Ah, Meister Poutnik«, sagt Lang mit kaum verhohlenem Ärger, als ich in den Saal stürze. »Wir warten bereits seit einer halben Stunde. Endlich können wir mit unserer wichtigen Besprechung beginnen.«
»Philipp«, tadelt ihn Rudolf missmutig. »Ich kann solch eine Konferenz nicht ohne den Spiegel
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