Angelglass (German Edition)
irgendwelche Fragen zu beantworten, und ermahnt mich stattdessen zur Ruhe, als wir uns durch die stillen Seitenstraßen der Stadt schleichen. In einiger Entfernung sind Geschrei und Kampfgetöse zu hören; der Geruch von Feuer hängt schwer in der ruhigen Nachtluft. Hannah geleitet mich durch schmale Gassen und Winkel, führt uns einen oder zwei Kilometer von der Karlsbrücke entfernt über eine klapprige Holzbrücke und bahnt sich schließlich den Weg zum Getto. Fast zwei Stunden sind wir unterwegs.
»Aber wie kommen wir denn ins Getto hinein?«, flüstere ich erbittert. »Das Tor wird bewacht.«
»Es gibt andere Zugänge. Geheime«, erwidert sie mit leiser Stimme. Nach einer Weile stehen wir vor der Mauer an der Ostseite des Gettos, wo sich eine schwer verriegelte Tür in das Mauerwerk schmiegt. Hannah klopft zweimal an. Die Tür wird schnell aufgerissen. Nachdem wir hindurchgeschlüpft sind, wird sie wieder geschlossen und verriegelt. Mir fällt auf, dass die Tür fast zehn Zentimeter dick und auf der Innenseite stark gesichert ist. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass wir uns mit nur einem Eingang ins Getto begnügen, oder?«, fragt Hannah.
»Willst du mir jetzt erklären, was hier los ist?«
»Komm mit mir«, kommandiert sie. Ich folge ihr durch das von Ratten verseuchte Straßengewirr, bis wir schließlich vor einem bekannten Gebäude stehen. Die Alt-Neu-Synagoge.
»Hannah«, versuche ich es erneut. »Rede mit mir. Was ist dieser Golem?«
Hannah bleibt unter dem geschnitzten Feigenbaum stehen, der den Eingang zur Synagoge ziert. »Du wirst es noch früh genug sehen«, sagt sie und klopft heftig an die Tür.
Sie öffnet sich einen Spalt; aus dem Schatten reckt sich uns ein Gesicht entgegen. »Hannah?«, hören wir die Stimme eines jungen Mannes. »Du solltest nicht hier sein. Wir haben Wichtiges zu erledigen. Verschwinde sofort.«
»Lass mich rein, Ari«, sagt Hannah. »Oder ich erzähle den Soldaten am Tor, was hier vor sich geht.«
Der Mann seufzt und öffnet die Tür. Ich folge Hannah in den düsteren Eingangsbereich. »Was willst du damit erreichen?«, fragt er.
»Rabbi Löw macht einen Fehler«, erwidert Hannah. »Es ist falsch, den Golem zu erwecken.«
»Falsch ist, was da draußen passiert«, faucht Ari. »Sie töten uns! Sie …«
Er verstummt, als sich die Tür zum Vorzimmer öffnet, wo ich dem Rabbi bei meinem ersten Besuch begegnet bin. Löw, in eine zeremonielle Robe gewandet, erscheint in der Türöffnung.
»Ah. Die kleine Hannah. Und Meister Poutnik. Ich hoffe, dass dies kein Versuch ist, uns von der einzigen Maßnahme abzuhalten, die unsere Leute retten wird, hmm?«
»Rabbi, Ihr macht einen Fehler«, sagt Hannah. »Das Gemetzel, das sich bis jetzt abgespielt hat, ist nichts im Vergleich zu der Zerstörung, die der Golem anrichten wird.«
»Sie hat damit gedroht, es den Soldaten zu erzählen«, sagt Ari traurig.
Löw denkt einen Moment lang nach und sieht uns mit seinen glänzenden Augen an. Dann schnippt er mit den Fingern. Aus dem Nichts treten plötzlich vier Männer hervor und halten uns mit starken Armen fest.
»Rabbi«, fleht Hannah. »Bitte …«
»Bringt sie hinein«, befiehlt Löw. »Und haltet sie gut fest.« Er schenkt mir ein verschmitztes Lächeln. »Das werdet Ihr sicher interessant finden, Spiegel von Prag.«
Wir werden in das Vorzimmer gestoßen, das von Dutzenden Kerzen erhellt ist. Zwei ähnlich wie Löw und unsere beiden Wachen gekleidete Männer warten bereits. Der grobe Teppich ist zusammengerollt worden. Das Zimmer wird von der plumpen Gestalt eines Mannes beherrscht, der anscheinend aus trockenem Lehm geformt wurde. Er liegt auf dem Boden, seine blinden Augen starren an die Decke und er ist ungefähr drei Meter groß. Die vier Männer zerren Hannah und mich in eine Ecke und halten uns fest.
Löw wendet sich zu den anderen beiden. »Isaak Ben Simson, mein Schwiegersohn, und David Ben Chayim Sasson, mein getreuer Freund. Es geziemt sich, euch die Gefährlichkeit unseres Unternehmens darzulegen. Wenn sich einer von uns als unzureichend erweist, wenn unsere Läuterung nicht vollkommen ist, dann werden wir den Heiligen Namen entweihen und die Rache des Himmels wird uns gewiss sein.«
»Haben wir den Tag in inniger Buße begangen? Haben wir unseren Körper und unsere Seele geläutert? Haben wir uns Mikwe, dem rituellen Tauchbad unterzogen?«
Beide Männer nicken. »Dann sind wir also bereit, hmm?«, fragt Löw. »Ihr seid mutige Männer und werdet für
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