Angelglass (German Edition)
»Karla, ich muss etwas wissen.«
Sie macht mir ein Zeichen fortzufahren.
»Bist du eine Spionin für die Ölgesellschaften?«
Für einen Augenblick wird ihr Gesicht völlig ausdruckslos, so, als müsse sie die Frage erst verarbeiten. Dann sieht sie mich mit einem breiten Grinsen an. »Eine Spionin? Für sie? Du machst Witze, stimmt’s?«
Und aus irgendeinem, irgendeinem Grund weiß ich, dass sie die Wahrheit sagt. Als ich in ihre Augen blicke und darin etwas Helles und Leuchtendes erstrahlen sehe, weiß ich tief in meinem Innern, dass sie nicht lügt. Was nur eines bedeuten kann. John lügt.
Karla weicht vor mir zurück. »Eine Spionin?«, sagt sie noch einmal. »Lass mich raten: John, oder?«
Ich nicke zerknirscht. »Bitte erzähl es niemandem. Ich weiß zwar nicht genau, was er vorhat, aber ich muss ihn aufhalten. Jakob hatte recht, ich muss die Unschuldigen retten. John plant irgendetwas Außergewöhnliches. Es werden Menschen sterben. Vielleicht sogar du. Vielleicht bist du die Unschuldige, die ich retten muss.«
Karlas Hand fährt unter die Bettdecke und streichelt meinen Körper. »Oh, so unschuldig bin ich nun auch wieder nicht, Pooty.«
Ich küsse sie, und wir umarmen uns. Als ich mich in ihr verliere, weiß ich, wohin mich mein Kurs führen wird.
John muss bekämpft werden.
Karla muss gerettet werden.
Ich habe meine Seite gewählt.
Kapitel 16 Die Harten Männer
Vom Turm aus beobachte ich, wie Prag brennt. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass Kammerherr Lang damit drohte, mich in den Abgrund zu stürzen, falls ich seiner geliebten Stadt jemals etwas anzutun beabsichtigte. Und jetzt habe ich unbeabsichtigt die größte Gefahr heraufbeschworen, der die Stadt jemals ausgesetzt war.
Doch nein, nicht unbeabsichtigt. Ich hätte dem Golem auch befehlen können, sich selbst in die Moldau zu stürzen oder ans Ende der Welt zu wandern. Doch stattdessen habe ich ihm befohlen, das Getto zu beschützen und diejenigen ausfindig zu machen, die den Juden unrecht taten. Unkontrolliert und chaotisch wütet er nun in der Stadt herum. Wer weiß, wie viele durch die Hand des Golems bis jetzt gestorben sind. Sind alle von ihnen schuldig gewesen? Haben sie alle Bestrafung verdient? Oder hat der Golem das Leben von Unschuldigen zerstört. Sind Kinder in seinen riesigen Händen aus Lehm gestorben? Habe ich womöglich das schreckliche Blutgerücht erst zur Wahrheit werden lassen?
Jetzt ist es fast dunkel. Der Golem treibt schon seit Mitternacht sein Unwesen. Immerhin hat er die Aufmerksamkeit der Einwohner vom Getto abgelenkt. Die Juden sind vergessen … vorläufig. Diejenigen, die das schreckliche Antlitz des Golems erblickt haben, sind aus der Stadt geflohen; sogar von hier oben kann ich die Menschenmassen durch die Stadttore hinausziehen sehen. Die Soldaten sind machtlos; ihre Schwerter und Lanzen prallen wirkungslos von der Haut des Golems ab. Auf Finns Initiative hat die Armee rund um das Getto Feuerwände entfachen lassen. Sie hoffen, dass das Monster wieder zu den Lehmbrocken zusammenfällt, aus denen es erschaffen wurde. Doch während die Hütten und Häuser verbrennen, läuft der Golem ungehindert weiter und ist gegen die Flammen immun. Angst und Schrecken beherrschen die Stadt.
Und doch … sind Angst und Schrecken etwas Schlimmeres als der Hass, mit dem die Juden verfolgt wurden? Ist das Leben auf der Erde letztlich nicht bloß eine Abfolge von Hass und Schrecken? Eines kaum leichter oder schwerer zu ertragen als das andere?
Plötzlich wird mir bewusst, dass eine Gestalt in den Schatten des Turms hinter mir lauert. Doch nicht etwa ein weiterer Sendbote, der mich an Rudolfs Seite ruft? Den ganzen Tag habe ich in der großen Halle verbracht, während der Kaiser und sein Hofstaat die Hände gerungen und verzweifelt nach Lösungen gesucht haben, um den Amoklauf des Golems zu stoppen. Ich habe ihnen ein verkürzte Version der nächtlichen Ereignisse geliefert, habe erzählt, dass ich zum Getto gelaufen bin, um irgendwie ein Ende der Angriffe gegen die Juden zu bewirken, und dabei zufällig beobachtet habe, wie Rabbi Löw den Golem erweckte. Von meiner oder Hannahs Beteiligung an den Geschehnissen habe ich nichts berichtet. Dennoch glaube ich, ihnen genügend Informationen geliefert zu haben, damit sie einen Weg finden können, um den Golem aufzuhalten. Erschöpft drehe ich mich um, doch es ist gar kein Bote. Es ist Brahe, der Alchemist.
»Ich dachte mir, dass Ihr es seid«, sagt er. Seine goldene Nase
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