Angelglass (German Edition)
langen, geraden Nase, den blassen, fast blutleeren Lippen und den hellen, leuchtenden Augen, was mich so fasziniert. Und ebenso wenig die Art, wie sich mein feuchtes schwarzes Haar um meinen Nacken und meine Ohren kräuselt; vielmehr ist es der Spiegel selbst, der mich so fesselt. Ich strecke die Hand aus, um den kondensierten Dampf mit den Fingerspitzen vom Spiegel abzuwischen, und habe fast das Gefühl, an der Schwelle einer Erinnerung zu stehen; irgendetwas sehr Wichtiges …
Ein hartes Klopfen an der Tür lässt die Blase zerplatzen, bevor sie sich auch nur richtig geformt hat.
»Poutnik? Bist du da drinnen?« Es ist Petey.
»Ich komme«, rufe ich.
»Hey, keine Angst, es ist nur … äh, weißt du, Karla ist fertig. Sie wartet unten und … ja, na weißt schon … Frauen.«
Nachdem ich mich fertig rasiert habe, ziehe ich mich in Johns Zimmer schnell an und haste die Treppe hinunter. Jenny liegt auf dem Sofa und liest. Padraig hat sich ein Kissen unter den Kopf geschoben, liegt auf dem Fußboden und schnarcht. Karla steht mitten im Zimmer. Von ihrer Schönheit überwältigt, bleibe ich im Türrahmen stehen. Sie trägt ein schlichtes blaues Kleid mit einer weißen Strickjacke, und dennoch beherrscht ihre Gestalt den ganzen Raum, der von ihrem blumigen Parfum durchdrungen ist. Ihre dichten Locken umspielen ihre Schultern, während sie mich mit kunstvoll geschminkten Augen ansieht.
»Sehr hübsch«, murmelt Cody, der mit einem Sandwich aus der Küche kommt.
»Selbst schuld, Freundchen«, sagt sie und winkt dabei gleichzeitig mir zu. »Komm, Poutnik, wir verschwinden jetzt lieber. Es ist ein klarer Abend … ich denke, wir gehen zu Fuß.«
»Wohin?«, frage ich, als Karla ihre Handtasche und ihren Mantel nimmt.
»Zum Schloss«, erwidert sie.
Während wir auf der Malá-Strana-Seite über die Kopfsteinpflasterstraßen laufen, frischt der eisige Wind ordentlich auf, sodass wir unsere Mäntel enger zusammenziehen müssen. Wir laufen schweigend. »Jenny hat mir erzählt, was gestern Abend passiert ist«, sagt Karla plötzlich. »Auf der Karlsbrücke. Als ihr von der Kneipe nach Hause gegangen seid.«
»Aha?«
Mit ihren blauen Augen sieht sie mich forschend an. »Der Kuss. Ich glaube, du solltest etwas über Jenny wissen. Sie ist lesbisch.«
»Ach.«
»Also hör mal, ich will mich ja wirklich nicht einmischen, Pooty …« Sie hält inne, hält mich am Arm fest und lässt eine Straßenbahn an uns vorbeidonnern. »Aber sie hat eine Freundin, okay? Sie meinte, sie sei letzte Nacht etwas … verwirrt gewesen.« Karla hält mich noch immer fest.
Ich überlege einen Augenblick. »Jenny kommt mir nicht sonderlich verwirrt vor.«
Karla zuckt mit den Schultern. »Das ist sie auch nicht. Nicht für gewöhnlich. Sie ist ziemlich ausgeglichen. Aber sie sagte, gestern Nacht habe es irgendwas gegeben … irgendetwas, das sie veranlasst hat, dich zu küssen. Als wollte sie es wissen.«
»Was wissen?«
Karla schüttelt den Kopf und gibt ein kleines, leicht betreten klingendes Lachen von sich. »Ich weiß nicht genau, was sie damit gemeint hat. Sie sagte, sie wollte wissen, ob du real bist.«
Wir lassen die Cafés und Kneipen am Malá-Strana-Platz hinter uns und betreten die Nerudova, die schmale Straße, die sich zum Schloss hinaufwindet. Der Wind bläst uns heulend entgegen und nimmt uns fast den Atem.
»Wir hätten ein Taxi nehmen sollen«, murmelt Karla und scheint das Thema wechseln zu wollen. Für mich ist die Sache ohnehin schon vergessen, zumindest für den Augenblick. Dann plötzlich sehe ich das hell leuchtende, über Prag thronende Schloss vor mir aufragen. Für einen langen Moment vergesse ich beinahe, Atem zu holen. »Das Schloss …«, flüstere ich.
Karla sieht mich durchdringend an. »Kommt es dir bekannt vor? Gut, ich meine … jeder, der in Prag wohnt, kennt das Schloss, aber … regt sich da irgendwas bei dir?«
Ich erwidere ihren Blick. Einen langen Augenblick stehen wir so da, bis sie schließlich wegsieht. »Ich bin sicher, es wird alles zurückkommen«, sagt sie, ein wenig zu entschlossen. »Komm, sonst verspäten wir uns noch.«
Im Schloss ist es hell und warm. Ein Streichquartett spielt leise, während wir in der Spanischen Halle umherlaufen. Es ist der erste Abend einer Kunstausstellung, über die Karla für ihre Zeitung berichten soll. Nachdem sie uns zwei Gläser Sekt organisiert hat, betreten wir den Ausstellungsbereich. Kleinere Gruppen von Besuchern unterhalten sich leise und studieren
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