Angelglass (German Edition)
den Katalog.
»Kommt der Künstler auch?«, frage ich.
Karla lacht leise. »Das glaube ich nicht, Pooty. Er ist vor mehr als vierhundert Jahren gestorben.«
Während wir uns dem ersten Bild nähern, wirft Karla einen Blick in den Katalog. »Giuseppe …«
»Arcimboldo«, beende ich ihre Worte und starre auf das zweifelsohne groteske Bild vor mir; eine Ansammlung von herbstlichen Früchten und Gemüsesorten, die zu einer wallenden Mähne arrangiert worden sind. Es kommt mir bekannt vor, allerdings nicht, weil ich mich daran erinnere. Es ist mehr so, als betrachtete ich das Porträt zwar hier und jetzt, aber an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. Mein Kopf ist plötzlich von heulendem Wind erfüllt.
»Arcimboldo«, stimmt Karla mir zu. »Hey Pooty, sieht so aus, als kämen die Erinnerungen langsam zurück. Vielleicht bist du ja Kunststudent oder so was, hm?«
»Das glaube ich nicht«, erwidere ich gedankenverloren und von dem Bild völlig vereinnahmt. »Er ist tot, sagst du?«
»Seit vier Jahrhunderten«, sagt Karla und sieht mich fragend an. »Hey, bist du in Ordnung? Du siehst etwas komisch aus.«
»Ich fühle mich etwas seltsam.« Als ich mich nach einer Sitzgelegenheit umsehe, fällt mir plötzlich das Glas aus der Hand, zerschellt mit einem Krachen auf dem marmornen Fußboden und bedeckt meine Schuhe mit Sekt. Ein paar Leute blicken in unsere Richtung und murmeln irgendetwas Abfälliges. »Ich glaube, ich muss hier raus.«
Ein tschechischer Kellner kommt zu uns und beginnt, die Sektpfütze aufzuwischen. Karla nimmt meinen Arm und führt mich in eine ruhige Ecke der Spanischen Halle. »Warte hier, ich hole dir etwas Wasser«, sagt sie sichtlich verunsichert.
Ich setzte mich auf eine Bank und lasse meine Hände über die kühlen Steine der Wand gleiten. Ich zittere. »Nein«, sage ich. »Ist schon wieder in Ordnung. Ich fühle mich nur ein bisschen … eigenartig. In einer Minute geht’s mir besser.«
»Okay«, erwidert Karla zweifelnd. »Hör mal, ich muss für meinen Artikel kurz mit ein paar Leuten sprechen. Bleib doch einfach hier fünf Minuten sitzen, ich erledige meinen Job und danach gehen wir vielleicht was essen oder so?«
»In Ordnung«, sage ich. Ich zittere zwar und kann den kalten Schweiß auf meiner Stirn spüren, scheuche sie aber mit einer Handbewegung weg. Nachdem sie gegangen ist, werfe ich einen zweiten Blick auf das Gemälde am anderen Ende des Raums. Jetzt kommt es mir bloß flach und leblos vor, nur Farbe auf einer Leinwand. Es ist nicht mehr das anzüglich grinsende, monströse Bild, das noch vor wenigen Augenblicken so viel Verwirrung in meinem Kopf verursacht hat. Ich spüre, wie ich langsam ruhiger werde, und beobachte Karla aufmerksam bei der Anfertigung ihrer Interviews. Als sie ein- oder zweimal in meine Richtung sieht, flammt ein Gefühl in meiner Brust auf, das ich gar nicht richtig einordnen kann.
Das Schwindelgefühl ist vorüber, und schließlich fühle ich mich fit genug, um aufzustehen und mir die Bilder genauer anzusehen. Wie die meisten Dinge, die mir seit meinem gestrigen Erwachen in diesem Graben widerfahren sind, kommen mir die Bilder überwiegend unbekannt vor – mit Ausnahme der Gemälde, auf denen der Künstler Früchte zur Darstellung eines Gesichts verwendet hat. Ich halte nach Karla Ausschau, kann sie in der Menge aber nicht entdecken. Schließlich sehe ich durch einen Türspalt, wie sie hastig mit einem großen Mann spricht, der Kellnerkleidung trägt. Nachdem sie sich wortlos getrennt haben, tritt Karla wieder in den kleinen Vorraum hinaus und blickt mich überrascht an.
»Ah, Pooty. Also ich bin hier so gut wie fertig. Geht es dir besser?«
Ich nicke. »Wir können gerne noch etwas bleiben, Karla. Ich bin wieder okay.«
Sie wirft einen Blick auf die Leute. »Ach nee, das ist eigentlich überhaupt nicht mein Ding. Ich hab genug für meinen Artikel morgen. Hast du Lust, eine Kleinigkeit zu essen?«
Zwanzig Minuten später haben wir uns in der Ecke eines dunklen Restaurants eingenistet, das nur ein paar Minuten vom Schloss entfernt liegt. Eine geöffnete Flasche Rotwein steht vor uns, und Karla studiert die in Leder gebundene Speisekarte. »Erzähl Jenny nicht, dass ich dich hierhergeschleppt habe«, warnt sie mich. »Ich hab meine Miete noch nicht bezahlt, und wenn sie erfährt, dass ich essen gegangen bin, steigt sie mir aufs Dach.«
»Ich kann selbst bezahlen«, sage ich. »Ich hab in der Kneipe heute Geld verdient.«
Karla tut mein
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