Angelglass (German Edition)
und Fußnägel abgeschnitten, mir Kerzen vor die Augen gehalten und an meiner Haut herumgeschabt. Alle Daten haben sie fein säuberlich in ein großes Buch eingetragen. »Habt Ihr inzwischen herausgefunden, wonach auch immer Ihr sucht?«, frage ich.
Brahe wendet sich von einer Reihe komplizierter Berechnungen ab, hebt den Kopf und stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich bin mir nicht ganz sicher, was wir herausfinden können, ohne Euch völlig zu sezieren, was der Kaiser ausdrücklich verboten hat.«
Kepler gibt ein nervöses Lachen von sich. »Er macht Scherze«, versichert er mir. Brahe wirft ihm einen Blick zu, der ausdrücken soll, dass er keineswegs gescherzt hat.
Als Brahe im hinteren Teil des chaotischen Laboratoriums verschwindet, um einen Abakus hervorzuholen, mit dem er seine Berechnungen fortsetzen kann, tritt Kepler von einem Fuß auf den anderen und sieht mich verstohlen an.
»Was genau ist diese Alchemie, die Ihr hier betreibt?«, frage ich, um das Schweigen zu brechen.
»Das zu erklären, würde ein ganzes Leben dauern«, erwidert Kepler. »Und selbst dann würde ich nur an der Oberfläche kratzen. Für Menschen wie den Kammerherrn Lang sind wir hauptsächlich nur mit dem Versuch beschäftigt, einfache Metalle in Gold zu verwandeln. So sehen die Laien unsere Arbeit, und wir sind nur froh, sie in ihrer Unwissenheit zu belassen. Doch die Alchemie ist etwas weitaus mehr … Spirituelles.«
Kepler hält abrupt inne, als Brahe mit seinem Abakus zurückkommt, und befürchtet wohl, für sein Gespräch mit mir ausgescholten zu werden. Der Wissenschaftler mit der goldenen Nase nimmt mich für einen Augenblick in Augenschein. »Ich brauche keine weiteren Berechnungen und Untersuchungen, Meister Poutnik. Auch so kann ich bereits sagen, dass Ihr aus einem ganz anderen Holz geschnitzt seid als die meisten anderen. Ich will Euch etwas über die Alchemie erzählen.«
Brahe lässt sich schwerfällig auf einen Holzschemel fallen, schiebt seine Berechnungen und den Abakus beiseite, reibt seine Metallnase und versinkt einen Augenblick in Gedanken.
»Es ist ganz richtig«, sagt er, »dass die Alchemie oft als der Versuch angesehen wird, aus weniger wertvollen Elementen Gold zu gewinnen. Die simple Wahrheit lautet im Kern, dass es sich bei Alchemie um Transformation handelt, nicht mehr und nicht weniger. Es geht darum, die Kräfte der unsichtbaren Spiritualität zu benutzen und sie dem rohen Material der Natur einzuprägen, um eine erkennbare Veränderung zu bewirken.
Alles in unserem Kosmos ist von Dualität bestimmt, Meister Poutnik. Mann und Frau. Leben und Tod. Licht und Schatten. Diese Dualität befindet sich in stetiger Bewegung und Auseinandersetzung und kann nur von einem dritten, einem harmonisierenden Element, ins Gleichgewicht gebracht werden. Diese dreifaltige Natur ist der Kern der Alchemie.«
Brahe erhebt sich und deutet auf ein Schaubild, das einen nackten Mann darstellt. »Betrachten wir uns selbst, Meister Poutnik. Wir sind ein Paradebeispiel für die dreifaltige Natur oder das dreifache Geheimnis. Nennt es, wie Ihr wollt. Der Mensch ist aus dem umherwirbelnden, chaotischen Zustand geschaffen, in dem er diese Welt betritt – seinen rohen, ursprünglichen und animalischen Lüsten. Diese grundlegende Lebenskraft wird vom Element Schwefel repräsentiert und befindet sich hier in seinen Lenden.
Der andere Aspekt des Menschen ist sein rationales Denkvermögen, das Bewusstsein seiner selbst, sein Geist. Und letztlich ist dies auch seine Todeskraft, denn das vermittelt ihm ein tatsächliches Wissen um seine eigene Sterblichkeit. Dieser Aspekt entspricht unserer Auffassung nach dem Salz.
Die beiden Aspekte befinden sich in konstanter Aufruhr; die Lebens- und die Todeskraft ringen miteinander. Rationales Denken und animalische Leidenschaften streben nach Vorherrschaft. Und hier ist es das dritte Element, nämlich Quecksilber, das emotionale Zentrum des Menschen, das die anderen sowohl zusammenbindet als auch voneinander getrennt hält und nach Ausgleich strebt.«
Brahe nimmt einen Barren Blei von seiner Werkbank. »So wie beim Menschen verhält es sich mit allen Dingen. Hier habe ich ein Produkt der Erde, des wertlosen und einfachen Schwefels.«
Er fährt mit der Hand durch die Luft. »Um uns herum ist das spirituelle Salz der Gedanken, der Vernunft und der Ordnung, die geheiligten Tautropfen des Himmels.«
Seufzend legt Brahe den Barren zurück. »Irgendwo ist das Quecksilber, die Kraft des
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