Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angelglass (German Edition)

Angelglass (German Edition)

Titel: Angelglass (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Barnett
Vom Netzwerk:
Mit einem Degen? Mit Hunderten von Degen?«
    »Nein, Kammerherr«, erwidere ich atemlos.
    »Nein. Nein, das könntet Ihr nicht. Er ist so stark und gesund wie das Kaiserreich selbst, und weder Ihr noch Sir Anthony noch der verfluchte Doktor John Dee, wenn er denn einmal eintrifft, würde auch nur einen Augenblick in diesem Käfig überleben. Und genauso ist es mit Rudolf. Er mag vielleicht nicht ganz gesund aussehen und man bezeichnet ihn vielleicht auch als wahnsinnig, aber er – und sein Reich – sind so lebendig wie dieser Löwe. Seid gewarnt, Findling. Seid gewarnt.«
    Hinter uns ist plötzlich eine Bewegung erkennbar. Vier der Palastwachen, in lederne Uniformröcke und abgewetzte Stiefel gekleidet, kommen über den Kiesweg gelaufen und ziehen eine kleine Karre hinter sich her, die mit dem frisch geschlachteten Kadaver eines großen Hirschs beladen ist.
    »Ah, das wurde auch Zeit«, sagt Lang mit sanfter Stimme. Er redet jetzt in der böhmischen Sprache und glaubt anscheinend, dass ich sie nicht verstehe. »Der Löwe ist hungrig. Ich hatte schon befürchtet, dass ich des Kaisers neues Hündchen an ihn verfüttern müsste.«
    Die Wachen grinsen, sehen mich an und wechseln einen Blick. Meine Adoption durch Rudolf hat sich offenbar schnell herumgesprochen. »Das ist nicht nötig, Kammerherr«, sagt eine der Wachen, »heute gibt es frisches Wildbret für das Biest.«
    »Umso besser«, stimmt Lang zu. »An diesem hier wäre wohl auch etwas zu wenig Fleisch.«
    Die Wachmänner lachen wieder. Einer der beiden holt eine große Lanze aus einem Schuppen neben dem Käfig, stößt sie durch die Gitterstäbe hindurch und richtet sie gegen den Löwen. Das Tier setzt sich und beobachtet den Wächter mit kühler Langeweile. Die Prozedur scheint ihm bereits bekannt zu sein.
    Ein weiterer Wachmann schließt ein großes Tor auf, das in die Gitterstäbe eingelassen ist, während sich die verbleibenden beiden Wächter den Hirschkadaver auf ihre Schultern hieven. Mit eingeübter Schnelligkeit wird das Tor geöffnet, der Hirsch in die Koppel geworfen und der Käfig wieder verschlossen. Der Wächter legt die Lanze zurück in den Schuppen, dann salutieren die vier Soldaten vor Lang und ziehen ab.
    Eine Weile beobachten wir, wie der Löwe seine Mahlzeit zerfleischt, große Stücke mit seinen scharfen Zähnen herausreißt und sie hinunterschlingt, bis Lang entscheidet, dass ich offenbar genug gesehen habe. »Kommt jetzt. Brahe und Kepler erwarten uns in der Goldenen Gasse.«
    »Wisst ihr, warum man sie die Goldene Gasse nennt?«, fragt Meister Kepler, der nervöse junge Mann mit dem ungepflegten Bart. Fast nackt hocke ich auf einem Untersuchungstisch in dem zugigen Raum, der beinahe die ganze Fläche eines der winzigen, niedrigen Häuser einnimmt, die dicht an das Hauptgebäude des Schlosses angebaut sind. Alle Häuser in der Gasse sind grellbunt in den Farben Gelb, Orange, Grün und Blau angestrichen und wirken so, als wären sie von riesigen Händen dicht aneinandergeschoben worden.
    »Die meisten Menschen da draußen glauben, es wäre deswegen, weil wir hier unseren alchemistischen Betätigungen nachgehen, unserem Bestreben, Blei in Gold zu verwandeln«, sagt Kepler mit einem schiefen Grinsen, das hinter seinem Bart eine Reihe fauliger Zähne entblößt. »Doch der eigentliche Grund ist, dass sich die Wachstuben des Schlosses auf dem Hügel da oben befinden und ihre Latrinen genau über der Gasse geleert werden. Das einzige Gold in der Goldenen Gasse besteht also aus schieren Strömen von Pisse, die durch den Rinnstein fließen. Das Ganze ist also ein Scherz, wie Ihr seht …«
    Der Gestank, der sich durch die engen Kopfsteinpflastergassen zieht, ist mit Sicherheit kein Scherz und bestätigt Keplers Geschichte. Ich frage mich, wie es Rudolfs Wissenschaftler schaffen, unter solchen Bedingungen zu arbeiten.
    »Sei still, Kepler«, sagt Brahe entnervt. Aufgrund der goldenen Nase, die an seinem Gesicht angebracht ist, hat er offenbar keine Probleme mit dem Gestank. »Er ist nicht hier, damit wir uns mit ihm unterhalten können. Er ist hier, um untersucht zu werden.«
    Kepler zuckt mit den Schultern und lächelt mich schüchtern an. Anscheinend bekommt er nicht viel Gelegenheit, sich mit seinem strengen Meister auszutauschen. Glücklicherweise hat Lang etwas anderes zu tun und hat mich mit den Alchemisten allein gelassen. Schon seit über einer Stunde sind sie dabei, mich erneut zu messen und zu wiegen, haben mir Haarsträhnen abgetrennt

Weitere Kostenlose Bücher