Angelglass (German Edition)
Wagenheber schwingt, stürze ich mich in Richtung des Eindringlings. Völlig unvorbereitet stoße ich mit zwei fuchtelnden Armen zusammen, die sich mir aus dem Nichts entgegenrecken. Mir bleibt die Luft weg, als ich ruckartig hinfalle und über der Gestalt auf dem Boden lande.
Ich schnappe nach Luft, während sich der Eindringling unter mir windet. »Halt ihn fest!«, ruft Karla, zieht eine bleistiftdünne Taschenlampe heraus und schaltet sie ein.
Der starke Lichtstrahl trifft auf ein angstverzerrtes Gesicht. Ein Gesicht, das ich schon einmal gesehen habe. So wie Karla.
»Der Postkartenverkäufer«, sagt sie nach einem Augenblick. »Der dich auf der Karlsbrücke mit dem bösen Blick belegt hat.«
Sie hat recht. Völlig entsetzte Augen leuchten in einem wettergegerbten Gesicht, der zahnlose Mund zittert vor Angst. Dann blickt mir der Eindringling in die Augen.
»Meister Poutnik!«, stößt er schließlich hervor.
Karla flucht in sich hinein. Mein Gefangener versucht sich loszureißen, aber ich halte ihn fest.
»Meister Poutnik«, sagt er mit sanfter Stimme. »Kennt Ihr mich nicht? Ich bin es, Jakob.«
»Jakob …«, wiederhole ich. »Ich … kennen wir uns?«
Als sich mein Griff lockert, rammt mir der alte Mann sein Knie in den Unterleib. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rolle ich auf die Seite. Die drahtige Gestalt springt auf die Füße und schlägt Karla die Taschenlampe aus der Hand. Als die Lampe hinfällt und über das Gras rollt, sehe ich den alten Mann durch das Tor schlüpfen.
»Rettet die Unschuldigen, Meister Poutnik!«, ruft er, während seine hektischen Schritte in der Gasse draußen verhallen. »Rettet die Unschuldigen!«
Kapitel 10 Das Seeungeheuer
Von meinem Ausflug ins Getto bin ich ziemlich aufgewühlt; nicht zuletzt durch die Weissagung des mysteriösen Sehers Ripellino, die mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert hat. Rudolf hingegen ist vom Versprechen des Rabbis, ihn bei Anbruch der morgigen Nacht in aller Heimlichkeit zu treffen, derart begeistert, dass er sogar verspricht, mir die Teilnahme am Gipfeltreffen zu erlauben.
Bei unserer Rückkehr ins Schloss drückt mich Hannah plötzlich in einen der kleinen Alkoven, von denen die dunklen Korridore des Schlosses gesäumt sind.
»Hannah …?«, frage ich, doch sie legt mir einen Finger auf die Lippen und ersetzt ihn gleich danach mit ihrem Mund. Von ihren drängenden Küssen angefeuert, lege ich meine Hände auf ihre Brüste, die von einem groben wollenen Hemd bedeckt sind. Sie stößt ein leises Stöhnen aus, drückt sich dichter an mich, erstarrt aber plötzlich, als ein Geräusch ertönt. Schellen.
Über Hannahs Kopf erkenne ich den widerlichen Zwerg Jeppe, der in einer Hand seinen klingenden Totemstab schwingt und mit der anderen völlig schamlos in den Taschen seiner Kniehosen herumfummelt.
»Fort mit dir, Narr!«, brülle ich ihm zu.
Ein verletzter Ausdruck erscheint auf dem verunstalteten Gesicht des Zwergs. »Jeppe ist ein armer Narr, Scherz ist seine Zunft«, quiekt er und fletscht seine verstümmelten und verrotteten Zähne. »Doch habt ein Herz und lasst ihn schau’n Euch rasen in der Brunft.«
»O Gott«, stöhnt Hannah, woraufhin der Zwerg ein grauenhaftes Kichern anstimmt und in die Dunkelheit hineintrippelt. »Ich muss gehen«, sagt sie und eilt in Richtung Küche, verspricht mir aber vorher, mich in den Königlichen Gärten wiederzutreffen, wenn ihre Arbeit beendet ist. Die Kühle, die sie bei unserer ersten Begegnung an den Tag gelegt hat, ist seit unserem Zusammentreffen mit Ripellino auf dem Altstädter Ring und, vielleicht noch mehr, angesichts des mysteriösen Vorfalls mit den Landsknechten auf der Karlsbrücke völlig dahingeschmolzen. Welche Macht hat den Soldaten derart verängstigt? Umgehend beschließe ich, Meister Kepler und Meister Brahe danach zu fragen, doch die Tür zu ihrem winzigen Laboratorium in der Goldenen Gasse ist verschlossen. Gelangweilt halte ich nach Sir Anthony und seinen Männern Ausschau, treffe aber lediglich Percy in seinem Quartier an. Lustlos blättert er in einem Buch, das er aus einer von Rudolfs Bibliotheken entliehen hat. Als ich eintrete, sieht er mich geringschätzig an.
»Ich suche nach etwas Gesellschaft«, gestehe ich freimütig ein.
»Die Männer vergnügen sich mit den Huren, und Sir Anthony versucht wieder, diesen Kammerherrn Lang zu beschwören«, erwidert Percy entnervt. »Allerdings weiß ich nicht, wozu das gut sein soll. Meinetwegen könnten wir auch das
Weitere Kostenlose Bücher