Angelglass (German Edition)
ist alt und pflegt seine Gewohnheiten. Er hat seltsame Vorstellungen und glaubt noch immer, dass die Juden von ihren Peinigern befreit werden können. Er glaubt an einen Erlöser.« Sie wirft mir einen Blick zu. »Ich möchte wetten, dass er dir von dem Ewigen Juden erzählt hat, nicht wahr?«
»Das hat er tatsächlich …«
Hannah gibt ein kleines Lachen von sich. »Ich wusste es. Ich muss gestehen, dass auch mir dieser Gedanke gekommen ist, nachdem ich diese Szene mit den Brückenwächtern erlebt habe.«
Zu meiner Überraschung stellt sich Hannah auf die Zehenspitzen und küsst mich auf die Wange. »Aber für den Ewigen Juden bist du viel zu weltfremd«, sagt sie mit einem Lachen.
Ich bin nicht in der Stimmung, noch einmal Rudolfs riesigem Löwen zu begegnen. Hannah führt mich über einen ruhigen Weg am Rand der Festungsmauer. Schwere Holzgerüste sind in sie eingelassen, und ein paar große Steinblöcke sind sowohl am Fuß der Mauer als auf dem höher liegenden Arbeitsgang übereinandergestapelt. Zweifellos wurden sie auf Befehl Rudolfs errichtet und entspringen irgendeinem Fiebertraum oder erfüllen einen astrologischen Zweck.
»Ich liebe diese Gärten«, sagt Hannah. »Die Bediensteten sollen hier eigentlich nicht herumlaufen, aber mit dem Spiegel von Prag als Begleitung wird mir schon nichts passieren.«
Am klaren Himmel senkt sich die Sonne und taucht die Wolken in eine blutrote Farbe. Hannah bleibt stehen und pflückt eine Blüte der Klematis ab, die die Mauern seit ewiger Zeit zu überwuchern scheint. Sie hält sie an ihre Nase und blickt mich über den Rand der lilafarbenen Blütenblätter an. »Du faszinierst mich, Meister Poutnik«, sagt sie.
»Ich fasziniere viele Menschen, nicht zuletzt mich selbst.«
Hinter den Bäumen ertönt plötzlich ein Geräusch. »Was war das?«, frage ich erstaunt.
»Der Paradeplatz. Rudolfs Regimenter werden anscheinend gemustert. Vielleicht hat er sich ja endlich entschieden, eine Legion zu entsenden, um Sir Anthony und Schah Abbas zu unterstützen.«
Mit einem Seitenblick betrachte ich Hannah. Für eine Küchenmagd weiß sie sehr viel über die höfischen Angelegenheiten. Vielleicht war es ja falsch, ihrem Vater so ohne Weiteres zu trauen.
Hannah stellt sich dicht neben mich und berührt meine Wange. Mit einem Mal verlegen geworden, zieht sie ihre Hand wieder zurück. »Ich muss mich entschuldigen, Meister Poutnik, ich …«
»Psst«, sage ich und lege ihre Hand in meine. Mit erwartungsvollen Augen sieht sie mich an. Dann blickt sie über mich hinweg und richtet die Augen auf die Mauer hinter mir. Plötzlich drückt sich ihr Körper an meinen und unsere Lippen treffen sich.
»Ich glaube, wir waren noch nicht ganz fertig miteinander«, murmelt sie und schiebt mich rückwärts, bis ich vor eines der Holzgerüste stoße.
»Mit der Sonne im Rücken siehst du ziemlich gut aus«, sagt sie leise. »Lass mich dich genauer ansehen.«
Sie tritt zwei oder drei Schritte zurück und betrachtet mich eingehend. Die Sonne versinkt jetzt schnell, und die Mauer wirft einen düsteren Schatten über den Garten. Am Rande des Schattens sticht mir plötzlich etwas ins Auge, eine wogende, fast fließende Bewegung, begleitet vom fernen Geräusch klingelnder Schellen. Eine Sekunde später wird die Stille von Hannahs markerschütterndem Schrei durchbrochen.
Plötzlich bleibt mir die Luft weg. Ich werde nach rechts geschleudert und lande unter den Gliedmaßen einer anderen Person auf dem Boden, als ein riesiger Steinblock mit einem scheußlichen Krachen auf die Stelle herunterdonnert, auf der ich eben noch gestanden habe. Völlig verwirrt brauche ich einen Moment, um zu begreifen, was passiert ist. Zuerst glaube ich, dass jemand von der Mauer auf mich hinuntergesprungen ist, doch als ich mich von dem schweren Körper über mir zu befreien versuche, wird mir das Ausmaß des Geschehens bewusst: Irgendjemand hat den Steinblock absichtlich von der Mauerkrone hinuntergestoßen, und gerade noch rechtzeitig wurde ich vor dem sicheren Tod bewahrt. Mein Retter trägt die Uniform von Rudolfs Soldaten, und als er sich aufrichtet, sehe ich einen erstaunten Ausdruck auf Hannahs Gesicht.
Mein Retter ist ein Riese.
Er bürstet sich den Staub von seinem ledernen Uniformrock, während ich zu der massiven Gestalt hinaufblicke, die den letzten Rest der Sonne verdeckt. Er ist fast drei Meter groß, breitschultrig, mit einem länglichen, hohlwangigen Gesicht und funkelnden Augen. Er beugt sich ein Stück
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