Angelika Mann - Was treibt mich nur?: Autobiografie (German Edition)
Grenzen gestürmt werden würden. Wie naiv kann man sein, dachte ich. Meine Vorstellung der zukünftigen Ereignisse sah eher so aus: Alle müssen einen Pass beantragen und dann gibt es wieder nicht genügend Papier oder Stempelfarbe … Was sich aber wirklich in den folgenden Tagen und Wochen abspielte,habe ich in keiner Weise kommen sehen. Wir sind nach der Vorstellung nach Hause gefahren, haben noch ein Fläschchen Sekt geköpft und den Fernseher angemacht. Da sah man den Reporter Robin Lautenbach am Grenzübergang Invalidenstraße stehen und nichts passierte. Ich habe laut gelacht über die Wessis. Als dann aber umgeblendet wurde zum Grenzübergang Bornholmer Straße blieb mir der Mund offen stehen. Dort war die Hölle los – Wahnsinn! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir uns sofort wieder aufgemacht in die Stadt, aber Udo war nicht dazu zu bewegen.
Am nächsten Morgen klingelte es morgens um sieben an unserer Tür. Michael, der Sohn von Papas Frau, besuchte uns als erster Ossi zum Frühstück. In Wilmersdorf erwartete man mich zu Synchronaufnahmen. Vorher fuhren wir kurz zum Grenzübergang Sonnenallee. Alle Menschen schrien „Wahnsinn“ und lagen sich in den Armen. Nur ein Neuköllner in Trainingshose stand da und brabbelte immer vor sich hin: „Was das kostet, was uns das alles kostet …“ Ich fuhr in Richtung Zoo und sah live und in Farbe wie die Stadt sich von einem Tag auf den anderen völlig verändert hatte. Genscher fuhr in einem gepanzerten Wagen an mir vorbei. Nur im Synchronstudio hatte man scheinbar von alledem nichts bemerkt. Niemand sprach darüber. Ich fühlte mich wie in einer anderen Welt.
Am Abend hatten wir wieder Dienst bei den „Stachelschweinen“ und das Europacenter war voller Menschen in Stonewashed-Jeans und roten Jacken. Klamotten, die es wohl im Osten kurz zuvor gegeben hatte. Die Leute jubelten, die Wessis steckten den Ossis Geld zu, es war eine unglaubliche Atmosphäre. Das Theater krachte aus allen Nähten, wer keinen Sitzplatz hatte, sah sich die Vorstellung im Stehen an.
In dieser Zeit fuhren wir fast an jedem Abend nach der Vorstellung zum Brandenburger Tor um die Mauerspechtezu besuchen. War das eine Stimmung dort. Und es dauerte gar nicht lange, bis wir einfach durch die offene Mauer hindurchspazieren konnten. Wir sind ins Palasthotel essen gegangen und erinnerten uns, wie wir dort damals mit Uschi Brüning Abschied gefeiert hatten.
Nach und nach veränderte sich alles. Künstler der DDR, die immer ganz gut zu tun hatten, standen nun vor leeren Häusern. Das Publikum hatte lange genug verzichten müssen und sehnte sich nun erst einmal danach, die Bands, Schauspieler und Sänger live zu sehen, die es immer nur aus dem Fernsehen kannte.
Viele Schauspieler aus der DDR versuchten im Westen Fuß zu fassen. Auch bei den „Stachelschweinen“ traf ich plötzlich auf alte Bekannte. Eines Abends stand ein Zwei-Meter-Mann vor mir und sagte: „Was machst du denn hier? Mit dir bin ich doch früher jeden Abend ins Bett gegangen.“ Das war Andreas Conrad, der ein großer Traumzauberbaum-Fan war und nun, wie auch der berühmte Lutz Stückrad, zum Ensemble gehörte.
Für die Westberliner Künstler war die Situation auch nicht einfach. Viele Schauspieler hatten sich gerade im Synchrongeschäft ein solides Standbein geschaffen. Das verführte wiederum dazu, größere Anschaffungen zu machen oder sich sogar eine kleine Wohnung zu kaufen. Plötzlich spürten sie die Konkurrenz der Kollegen, die aus dem Osten kamen und teilweise auch unter den üblichen Gagen arbeiteten, um überhaupt etwas zu verdienen. Viele Vorteile, die alle Westberliner genossen hatten, gab es nun nicht mehr. Als wir damals nach Westberlin kamen, gab es für Musiker noch die sogenannte Investitionszulage – also einen Ausgleich für die teuren Arbeitsmittel. Eine Unterstützung, die nach Öffnung der Grenzen schnell abgeschafft wurde.
Ich war überglücklich, dass ich nun wieder „rüber“ fahren konnte. Mein Weg führte mich natürlich zuerst zu den Theatern, ich sah in der Komischen Oper den „Freischütz“, den mein verehrter Regisseur Günter Krämer dort inszeniert hatte.
Auch am Brandenburger Tor war immer etwas los. Meine Tochter Ulrike fragte mich ganz verwundert, warum mir so viele Leute „Guten Tag“ sagten und sich freuten, mich zu sehen. Für mich waren das große Glücksmomente, die mir sehr gut taten! Mein Publikum hatte mich nicht vergessen. Vielen Menschen war gar nicht bewusst,
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