Angelique Der Gefangene von Notre Dame
würde und ihr nichts anderes zu tun blieb,
als auf das Ende der Nacht zu warten. Als Florimond eingeschlafen war, betrachtete sie ihn lange, dann stand sie auf und streckte ihre schmerzenden Glieder. Spürte sie etwa ein Echo der Folter, mit der man Joffrey gequält hatte? Schmerzhaft kamen ihr die Worte des Scharfrichters wieder in den Sinn: Heute ist alles drangekommen. Sie wusste nicht genau, welche Schrecken sich hinter diesen Worten verbargen, aber sie wusste, dass man dem Mann, den sie liebte, entsetzliche Qualen bereitet hatte. Oh, wenn doch nur schon alles vorbei wäre!
»Morgen werdet Ihr Frieden finden, Liebster«, sagte sie laut. »Dann seid Ihr endlich von den ungebildeten Menschen erlöst â¦Â«
Auf dem Tisch hatte sich das Blatt aufgefaltet, das sie vorhin gekauft hatte. Sie hielt die Kerze daneben und las:
In seinem schwarzen Höllenschlund
Der Satan vor dem Spiegel stund
Und fand sich gar nicht so übel geraten
Wie die Menschen auf Erden doch immer taten.
Im Folgenden beschrieb das Gedicht in manchmal komischen, meist jedoch derben Worten die Ratlosigkeit des Teufels, der sich fragte, ob sein von den Steinmetzen an den Kathedralen so verunglimpftes Gesicht nicht doch einem Vergleich mit den Menschen standhalten könnte. Die Höllengeister schlugen ihm vor, einen Schönheitswettbewerb mit den nächsten Sündern zu veranstalten, die von der Erde herunterkamen.
Gerade warf man dort oben ins Feuer,
Drei Hexenmeister, wahre Ungeheuer
Die geradewegs in die Hölle gerieten
Wo schon zahllose andere brieten.
Der Erste war ganz blau im Gesicht
Der Zweite war ein schwarzer Wicht,
Und der Dritte hieà Peyrac.
Drei Herren also nach Satans Geschmack.
Doch kaum hatten die Höllengeister sie entdeckt
Da warân sie so höllisch, teuflisch erschreckt
Von den drei Vertretern dieser Welt dort droben
Dass flatternd sie von dannen stoben.
Nur der Teufel, der lachte versonnen,
Denn er hatte den Wettbewerb gewonnen.
Angéliques Blick suchte nach der Unterschrift: »Claude Le Petit, Schmutzpoet.«
Ein bitterer Geschmack erfüllte ihren Mund.
Und den werde ich auch töten, dachte sie bei sich.
VIERTER TEIL
Die Totenglocke von Notre-Dame
Kapitel 19
D ie Frau muss ihrem Mann folgen, dachte Angélique, als der Morgen heraufdämmerte und sich ein Himmel von schillernder Klarheit über die Glockentürme breitete.
Also würde sie gehen. Sie würde ihm auf diesem letzten Weg folgen. Sie würde darauf achten müssen, sich nicht zu verraten, denn sie lief immer noch Gefahr, verhaftet zu werden. Aber vielleicht würde er sie ja sehen, vielleicht würde er sie erkennen...?
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Mit dem schlafenden Florimond auf dem Arm ging sie die Treppe hinunter und klopfte an die Tür der Witwe Cordeau, die bereits ihr Feuer anzündete.
»Kann ich ihn ein paar Stunden bei Euch lassen, Madame Cordeau?«
Die Alte wandte ihr ihr trauriges Hexengesicht zu.
»Legt ihn in mein Bett, ich werde schon auf ihn aufpassen. Das ist nur gerecht, mein armes Lämmchen! Der Henker kümmert sich um den Vater. Die Henkersfrau um den Sohn. Geht, mein Kind, und betet zu Unserer Lieben Frau von den Sieben Schmerzen, dass sie Euch in Eurem Leid beisteht.«
Von der Türschwelle aus rief sie ihr nach: »Und macht Euch keine Sorgen wegen des Markts. Ihr könnt nachher bei mir Suppe essen, wenn Ihr zurückkommt.«
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Angélique antwortete mühsam, das sei nicht nötig, sie habe keinen Hunger. Die Alte nickte mit ihrem struppigen Schopf und ging, vor sich hin murmelnd, wieder hinein.
Wie eine Schlafwandlerin passierte die junge Frau das Tor des Temple und machte sich auf den Weg zur Place de Grève.
Der Nebel über der Seine begann sich gerade erst aufzulösen, und allmählich traten die schönen Gebäude des Rathauses am Rand des weitläufigen Platzes daraus hervor. Es war eisig kalt, aber der blaue Himmel verhieà schon jetzt einen sonnigen Tag.
Auf dem vorderen Teil des Platzes erhob sich ein hohes Kreuz auf einem steinernen Sockel, dicht beim Galgen, an dem der Leichnam eines Gehenkten sanft hin und her schaukelte.
Die ersten Zuschauer strömten herbei und drängten sich um den Galgen.
»Das ist der Mohr«, hieà es.
»Nein, nein, das ist der andere. Sie haben ihn aufgehängt, als es noch dunkel war. So kann der Hexenmeister ihn sehen, wenn er auf seinem Karren ankommt.«
»Aber sein
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